Pickel

(Über die Pubertät des Konzepts „Working Mom“)


Wir wissen ja alle, wie es geht. Das mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, meine ich. Für uns Frauen gibt es tausend Vorbilder, tausend Möglichkeiten, tausend Fachbücher, tausend eigene Ideen und eine Million Kommentare dazu. Allein, hier und da gibt es klitzekleine Unreinheiten im schönen, gepflegten Antlitz des Konzepts „Working Mom“. Bisweilen auch Akne. Wie aus heiterem Himmel schreit man plötzlich sein Kind an, weil es seine Stiefel extra langsam zumacht, diese kleine Kröte, die einen nur ärgern will und EXTRA nicht hört, grad wo man es eilig hat, du gemeines Aas! Huch, war wohl ein bisschen heftig. Besonders wir Frauen gehen dann hart mit uns ins Gericht. Wir haben unser Kind angeschrieen! Wegen sowas! Etwas milder sind wir mit uns, wenn wir unseren Mann anschreien, weil er schon wieder den Geschirrspüler so dermaßen bekloppt eingeräumt hat, dass man alles nochmal von vorne machen muss, das kann doch nicht so schwer sein, Mann, TELLER zu den TELLERN und man kann das Ding auch ganz aufmachen und hinten was reinstellen, verdammt nochmal! Huch, war wohl ein bisschen heftig. Und plötzlich sind wir sauer auf die kinderlose Kollegin, die wegen eines harmlosen Schnupfens zwei Tage zu Hause geblieben ist, ZWEI TAGE, wegen SCHNUPFEN, von Schnupfen reden wir nichtmal und jetzt sitzen wir da und ausgerechnet heute macht der Kindergarten früher zu, als hätte sie’s geahnt, die faule Socke! Huch, war wohl ein bisschen heftig.

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Wo kommen die her, diese Pickel in unserem sauber ausgeklügelten Konstrukt, das uns glückliche Kinder, tolle Väter und totale Erfüllung versprochen hat? Es ist noch in der Pubertät und das bedeutet unter Anderem, dass ausgerechnet wir aufgeklärten Frauen, die alles reflektieren, verstehen, einordnen und relativieren können, unverhofft an Grenzen kommen. Und dann werden wir bisweilen so, wie wir nie sein wollten. Was führt dazu, dass das Leben hinter der schönen und lustigen Facebook-Familien-Heile-Welt-Fassade hier und da ganz schön aus dem Ruder läuft? Das:

1.: Unser Anspruch

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Viel berichtet, aber hier unbedingt noch einmal an erster Stelle zu nennen. Wir verlangen von uns Frauen, beruflich dort einzusteigen, wo wir vor den Kindern aufgehört haben und dann Karriere zu machen. Oder mit unserer Selbstständigkeit den ganz großen Wurf zu landen. Mit all der Verlässlichkeit und Kraft, die das erfordert, so, dass keiner merkt, dass wir nächtelang nicht geschlafen haben oder vor schlechtem Gewissen fast platzen, weil das Fieberkind seit 3 Tagen bei Oma wohnt. Im Kindergarten wollen wir dann erfüllt vom Tag voller Vorfreude ankommen und die Launen unserer Kinder mit einem milden Lächeln wegstecken. Dann flugs nach Hause, auf dem Rückweg noch schnell im Supermarkt vorbeischauen (ohne Peinlichkeiten und ja, es ist uns peinlich, all das, was Kleinkinder im Supermarkt so anstellen!) und zu Hause eben noch ne Wäsche rein, und dann wird gebastelt. Oder gesungen. Oder sich kreativ verkleidet. Auf dem Bio-Abendbrotstisch steht später pünktlich die ausgewogene Mahlzeit, zu der der Mann, falls er es rechtzeitig schafft, herzlich eingeladen ist.

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Nach dem einstündigen Insbettgehritual inklusive Kuscheln treffen wir uns dann mit unserem Mann bei einem guten Rotwein (Doppelverdiener!) auf dem Sofa. O.K., nur ne DVD statt Kino, aber man muss halt Opfer bringen. Wir wollen ja auch dem Mann noch die neuen Dessous zeigen, die wir im Internet gekauft haben, huiuiui, kicher, Kerze an und ab gehts! Und das jeden Tag, außer am Wochenende, da gehen wir mit der Freundin Kaffee trinken und der Mann „macht die Kinder“. Total gern natürlich. Ach, ich hab das Sportprogramm vergessen, hier gehen die Ansprüche durchaus auseinander. Manche verlangt von sich nur einmal die Woche Fitnesscenter (Doppelverdiener!), andere die tägliche Joggingstunde, sobald der Beckenboden wieder hält. Wer denkt an Omas Geburtstag? Kinder geimpft? Vorsorgeuntersuchungen noch im Plan? Passen noch alle Schuhe? Eigene Frisur noch zeitgemäß? Milch noch gut? Trotzphasenerziehungsratgeber-Workshop besucht? Ostereier ausgepustet? Adventskranz geklöppelt? Ladies, wir sind wahnsinnig! Niemand kann das auf Dauer schaffen, und wenn doch, dann nur mit entsprechenden Rahmenbedingungen, und damit kommen wir zum nächsten Punkt:

2.: Das Netzwerk

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Um auch nur der Hälfte unseres Anspruchs gerecht zu werden, brauchen wir einen Verbund. Ob der nun erkauft ist durch zusätzliches Betreuungspersonal oder durch Familie und Freunde von Natur aus da ist, spielt für das Gelingen keine Rolle. Wichtig ist, dass er groß genug und von Vertrauen geprägt ist. In den wenigsten Fällen ist das Netzwerk aber groß genug. Wenn es gut läuft gibt es eine Hauptoma und eine Zweitoma und eine Freundin oder Babysitterin neben dem Kindergarten. Oft gibt es das aber nicht, und dann steht man da mit ausgefallenem Plan A, wenn das Kind krank wird (oder man selbst!) und Plan B geht schon nicht mehr, weil man die Schwester nicht schon wieder fragen kann, die war letztes mal schon den Tränen nahe, kann aber nicht Nein sagen. Ja, wir Frauen können ausgezeichnet nicht fragen wollen und nicht nein sagen können. Standby-Babysitter sind teuer und es dauert Jahre, bis man genug Mütter kennt und die Kinder groß genug sind, damit man sie für ein paar Überstunden bei Freunden unterbringen kann. Aus irgendeinem Grund funktioniert die Vernetzung im Kindergarten, in dem fast alle Mütter das gleiche Problem haben, noch nicht optimal. Die geteilte Ersatzomi aus dem Viertel? Die Ausnahme. Zuverlässige Reihumbetreuung? Fehlanzeige. Da ist noch Luft nach oben. Ich glaube, das Problem liegt darin, dass sich keine traut, zu fragen. Es ist nicht gerade en vogue, Engpässe in der Familienorganisation offensiv anzusprechen, was sehr schade ist. Ist es aufgefallen? Bisher war die Rede hier hauptsächlich von den Müttern. Aus folgendem Grund:

3.  Die Rolle der Väter

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Auch hierüber ist hinlänglich analysiert, berichtet, und diskutiert worden (Der neue Vater, witzige Windelbücher von Vätern und so weiter). Was aber noch längst nicht ausreichend beleuchtet ist, ist der Vater mit berufstätiger Frau im eigenen beruflichen Umfeld. Über den wird überhaupt nichts geschrieben. Er ist aber eine tragende Säule im Familienmodell mit „Working Mom“. Jede berufstätige Frau mit Kind kennt den Moment: die wichtige Besprechung hat gerade erst angefangen, da kommt der Anruf: Kind krank. (Es wird natürlich die Mutter angerufen). Und los gehts: Cool bleiben, sich elegant aus der Besprechung stehlen, die KiTa vertrösten („Ich komm so schnell ich kann, ich muss nur noch schnell ein paar Kleinigkeiten regeln“), die Schwiegermutter anrufen, die kann nicht, selber krank, zeitgleich die Kollegin ins Thema einarbeiten, drei E-Mails schreiben, zwei weitere Besprechungen absagen, eine davon oberwichtig, das zweite Kind für den Nachmittag parken, zur Kita hetzen. Auf dem Rückweg ruft Frau den Mann an, dem das alles total leid tut. Echt. Hier ist ein Knackpunkt, und der liegt in vielen Fällen nicht in der Bereitschaft des Vaters, sondern in dem oft noch fehlenden Selbstverständnis Vorgesetzter, dass in solchen Situationen auch Väter gefragt sind. Es ist längst nicht üblich, dass Väter beruflich entbehrlich sind. Bei Müttern weiß jeder, dass es eben nicht anders geht, und je nach dem wird es zähneknirschend geduldet oder sogar unterstützt. Die Vorgesetzten von Vätern sind aber oft entweder selbst Väter, bei denen das auch nie ging, oder eben noch keine Väter. Auch hier ist noch viel Luft nach oben. Es ist eine gesellschaftliche und kulturelle Frage, keine wirtschaftliche oder individuelle. Es muss kollektiv eingefordert werden, dass die bezahlte Arbeit in solchen Fällen auch von Vätern unterbrochen werden kann.

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Es muss also eine erste Generation geben, die ganz selbstverständlich diese Rolle annimmt. Jeder Arbeitgeber wird damit umgehen können, aber kaum einer wird es von sich aus anbieten, wenn es nicht eingefordert wird. Erst dann kann das Modell aufgehen. Wenn beide arbeiten (egal wie viele Wochenstunden) sind beide gefordert, wenn die Familie ruft. Beide prüfen ihre Verfügbarkeit bei Notfällen und bei wem es weniger weh tut, der geht. So einfach wäre das dann. Ist es aber meistens noch nicht.

Ich bin trotz dieser Herausforderungen, die wir noch zu bewältigen haben, überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir, das ist meine eigene Familie, das ist aber auch meine Stadt, mein Land und viele andere westeuropäische Länder auch (in Abstufungen). Das liegt unter Anderem daran, dass das so schick klingende und dezent geschminkte Konzept der mordernen „Working Mom“ meist gar kein selbstgewähltes mehr ist, sondern einer finanziellen Notwendigkeit entspringt. Das gilt inzwischen für alle gesellschaftlichen Schichten, außer der obersten. Daher taugen auch mediale Vorbilder in dieser Hinsicht nichts. Sicher sind Frau Klum und Frau von der Leyen und Frau Lopez sehr tüchtige Frauen, aber eben tüchtige Frauen mit Kindermädchen. Nun können wir dies neidvoll feststellen und weiter Pickel drücken, oder wir freuen uns an unseren neuen Möglichkeiten und gestalten das Konzept „Working Mom“ beim Erwachsenwerden mit. Und fangen bei uns an.

Ich kaufe dieses Jahr einen Adventskranz. Ein Anfang.

 

(Bildquellen: 1: Benjamin Thorn 2: Konstantin Gastmann, 3: Rainer Sturm, 4: Angelina S., 5: Oliver Weber, 6: Uwe Steinbrich, Alle: pixelio.de)

Gute Nacht.


Mein Mann kommt eben ins Schlafzimmer, er wird heute Nacht erfrieren. Das Fenster war bis eben offen. Jetzt ist es zu, deswegen werde ich ersticken. Und kommt jetzt nicht mit diesem Kompromissquatsch, jede Beziehung ist durch das Thema Lüften per se gefährdet. Von Anfang an. Weil immer beide leiden. Es gibt keine Mitte. Abwechseln macht keinen Sinn, dann kann sich der Körper auf nichts einstellen und leidet jede zweite Nacht umso mehr. Nichts macht Sinn, man kann dem Elend nicht entrinnen. Ich habe mir, kurz nachdem mein Mann und ich zusammengezogen waren und ich festgestellt hatte, dass er im letzten Leben ein afrikanisches Höhlentier war, eine Sommerbettdecke gekauft, hauchdünn mit trotzdem Flausch drin. Es hilft nichts, ich ersticke nachts bei geschlossenem Fenster. Mein Mann hat auch eine neue Bettdecke, Ihr ahnt es, genau, Winter mit extra Flausch. Er hält mich für einen reinkarnierten Pinguin. Pinguine und afrikanische Höhlentiere können nicht zusammen leben, so viel steht fest, es muss mit dem Tod enden.

Ich sags schonmal, es gibt keine Lösung, keine befriedigende, nur Annäherungen. Zum Beispiel die, dass das Fenster zu bleibt und der Pinguin unterm Sauerstoffzelt nächtigt. Oder das Fenster bleibt offen und das afrikanische Höhlentier schläft mit Daunenbettpuschen und Nickianzug mit Kapuze.

Obwohl… das ist es! Und ich hab doch gleich eine schöne Idee für ein Weihnachtsgeschenk! Yeah! Wenn sich alle unlösbaren Probleme so einfach lösen ließen. Na dann, gute Nacht.

Eltern Bashing Bashing

Eltern Bashing ist in. Und meistens fühle ich mich ertappt. Vielleicht bin ich gar nicht gemeint, aber trotzdem:

Allerliebste Menschen ohne Kinder, die uns Eltern, insbesondere in Großstädten, wo wir ja jede Ecke gentrifiziert haben, dies und jenes vorwerfen: es nervt langsam! Ich bin nicht bereit, meine Kinder mit Schokolade vollzustopfen, bis in die Puppen wach sein zu lassen, ihnen beim ersten Trotzanfall eine runter zu hauen, sie ohne Helm neben einer Straße bergab Radfahren zu lassen, sie stundenlang schreien zu lassen, weil ich telefonieren oder fernsehen oder ausgehen will, sie zum Schwimmen lernen ins Wasser zu schubsen, sie ungeschützt unterm Ozonloch Hautkrebs kriegen zu lassen, ihnen mit 12 die erste Zigarette zuzustecken, sie sich so lange streiten zu lassen, bis sie bluten, ihnen unbequeme Schuhe und kratzende Mützen zu kaufen, sie mit einer Woche abzustillen, sie beleidigen zu lassen, sie hässlich anzuziehen, sie sich ständig selbst zu überlassen, sie unangschnallt ohne Kindersitz im Auto mitfahren zu lassen, weil uns das in den Siebzigern oder Achtzigern alles auch nicht geschadet hat. Doch, hat es.

Ihr seid enttäuscht, weil all Eure Freunde vorher den modernen Kinderheckmeck auch doof fanden und es nun selbst wie alle anderen machen? Gut, ich bin auch enttäuscht. Davon, dass manche von Euch am Telefon gnadenlos weiterreden, wenn im Hintergrund eins meiner Kinder weint. Ihr findet, es müsse sich schließlich auch zurücknehmen können, wenn Mama mal telefonieren will. Musstet Ihr als Kind ja schließlich auch. Liebe Leute, da wart Ihr 8 und nicht zwei! Als Ihr zwei wart, hat Eure Mutter nämlich mit niemandem tagsüber telefoniert, das war nicht üblich. Überhaupt telefonieren. Ich soll nicht immer von meinen Kindern erzählen? Warum nicht? Ich habe heute und gestern und vorgestern viel Zeit mit ihnen verbracht und viel Energie, sie beschäftigen mich. Früher hat Euch auch interessiert, was mich beschäftigt. Mich interssiert auch, wie es Euch geht und Politik und Kultur im Übrigen auch. Auch, wenn ich nicht mehr so oft ins Kino gehen kann! Übrigens, deswegen kommen meine Kinder auch in Facebok vor. Die Idee von Facebook ist, sich über sein Leben öffentlich auszutauschen, das kann man mögen oder nicht. Ihr postet Eure Fernreisenfotos, Autos, neue Schuhe und Anderes, ich poste Sachen über meine Kinder und Anderes. Soll ich so tun, als hätte ich keine? Warum?!

Und ja, ich lebe mit Kindern in einer Großstadt. Das ist nicht immer einfach für alle. Nein, es ist nicht schön, wenn mehrere Muttis nebeneinander ihre Kinderwagen schieben und keinen Platz machen. Mich stört das auch, natürlich. Mich stört jeder Mensch, der rücksichtslos ist. Meine Beobachtungen haben ergeben, dass das auch auf manche Menschen ohne Kinder zutrifft. Sie hauen mir die Tür ins Gesicht, brüllen mir ihr Privatleben ins Ohr, nehmen mir die Vorfahrt oder latschen auf den Radweg. Und wisst Ihr was? Es gibt auch rücksichtsvolle Mütter, ganz im Ernst! Sie bedanken sich, wenn man ihnen Platz macht und bemühen sich, dass alle zurecht kommen. Sie entschuldigen sich, wenn sie zu ausladend sind. Und ganz ehrlich: Ja, eine Mutter mit einem Kinderwagen sollte möglichst noch Platz in einem Bus finden. Rückt einfach zusammen und haltet Eure Klappe. Das habt Ihr früher auch gemacht, bevor Eure Freunde Kinder gekriegt haben, ich auch.

Und noch was: Ihr seid genervt, weil es so schwierig ist, Eltern zu treffen? Weil die morgens arbeiten und nachmittags ihre Kinder betreuen und abends zu müde sind? Stellt Euch mal vor, ich bin davon auch oft genervt! Aber so ist es eben mit kleinen Kindern und so war es schon immer. Sie kosten Zeit und Kraft und Ihr müsst dafür ein bisschen Platz machen. Ihr fehlt mir trotzdem! Ich würde mich freuen, wenn ich mehr Besuch von Euch bekäme. Auch wenn ich zwischendruch mal nen Schnuller stecken muss oder früh müde werde. Wenn Ihr mal Kinder habt, sind meine vielleicht größer und dann komme ich zu Euch. Und wenn Ihr keine kriegt, komme ich auch.

Ach, und zu den Vätern, die Euch Männer plötzlich so nerven, weil sie ihre Babys im Tragetuch tragen und bei der Geburt dabei waren und davon erzählen, womöglich emotional. Ihr wolltet doch nie so werden, wie Eure eigenen Väter! Die sich erst viel zu spät für Euch interessiert haben und die ganze Erziehung Euren Müttern überlassen haben. Die sich beschwert haben, weil Eure Mütter im Wochenbett die Hemden nicht pünktlich gebügelt und die Haare nicht ordentlich onduliert hatten. Die Ihr nie habt weinen sehen. Jetzt sind sie da, die beteiligten, gefühlvollen Väter und wisst Ihr was? Das ist ein Schritt nach vorne! Es ist alles noch nicht perfekt, alle müssen noch ein bisschen üben, aber es wird besser, ist doch toll!

Und zu guter letzt: Früher saßen wir alle im selben Boot und nun verraten wir Eltern unsere alten Ideale? Ach was. Darüber haben wir schon mit 14 geschimpft, wenn der oder die erste plötzlich mit jemandem ging. Und darüber werden wir mit 90 noch schimpfen, wenn Stefan plötzlich doch ins Altersheim geht und es gar nicht so schlecht findet. Oder wenn Martin den Führerschein abgibt, obwohl er das nie wollte. Ja, Menschen ändern sich. Sie können sich trotzdem mögen.

Wollen wir uns vertragen?

PS: Wir haben niemals mit 5 Jahren stundenlang allein in all den vielen riesigen Wäldern der siebziger Jahre gespielt und sind mit Kirchengeläut nach Hause gekommen. Da waren wir mindestens 10. Wenn überhaupt. Ich persönlich hatte nie eine Seifenkiste und nie ein Baumhaus. Und so viele einsame Feldwege mit Bäumen zum Draufklettern und Schmetterlingen zum Fangen und Grashalmen zum Draufpfeifen gab es auch nicht. Das war bei Astrid Lindgren und Mark Twain.

Wider den Gartenzaun!


Kennt Ihr das? Man steht in einer Menschenmenge, zum Beispiel bei einem Rockkonzert, vorne glühen die Scheinwerfer und direkt vor einem, fast im Gegenlicht, steht ein Typ, der ein bisschen eklig ist. Nicht doll, aber er hat so dünne Haare im Nacken und schwitzt, so dass sich die Fisseln auf seiner glänzenden Nackenhaut kringeln. Man kann noch seine unmoderne Brille erkennen, die bequemen Halbschuhe und von Zeit zu Zeit berührt er einen aus Versehen mit seiner Schwitzhand. Er ist nicht allein da, sondern mit einem Mädchen, das er plötzlich leidenschaftlich, im Gegenlicht scharf konturiert sichtbar, küsst. Man könnte sofort kotzen. Aber warum bloß? Diese Frage stellte ich mir aus gegebenem Anlass jüngst bei einem Konzert in der Hamburger Fabrik. Dieser Schwitzetyp hatte ja nicht mich geküsst, sondern ein Mädchen, das das offensichtlich genoss, was es allerdings noch schlimmer machte. Ich stellte fest, dass ich mich mehr abgrenzen muss. Menschen, die sich öffentlich küssen, obwohl sie für mich sexuell unattraktiv sind, sollten mich nicht ekeln, sonst muss ich in ein Land ziehen, wo sich das nicht geziemt, ein orientalisches zum Beispiel oder Japan.

So, und dann dachte ich über Abgrenzung nach, die musikalische Darbietung erlaubte dies. Ich bin darin total schlecht. Vor einiger Zeit bin ich in ein Viertel gezogen, das ich lebendig, bunt und persönlich finde und wo ich deshalb wahnsinnig gern wohne. Ich bin nicht arm und keine soziale Randgruppe. Für dieses Viertel gibt es eine Website, die einen tollen Online-Flohmarkt und so eine Art Klönecke beinhaltet. In dieser Klönecke tauschen sich die alteingesessenen Viertelbewohner schimpfend und höchst sozialkritisch über die Neuzugezogenen aus, die das Viertel ruinierten und allesamt kapitalistische Egomanen und -innen mit großen Sonnenbrillen seien. Ich lese das und was passiert? Ich lege mir, voller Wut und Scham, eine Verteidigungsrede zurecht. Warum das alles für mich gar nicht gilt. Dass ich den alternativen Musikladen auch lieber mochte als die Kaffeehauskette und dass ich, weil ich eben Geld übrig habe, dort sogar CD’s gekauft habe. Dass ich für jeden Alki vor Penny erste Hilfe leisten würde. Dass ich kein Auto besitze und keinen Motorroller und – und jetzt wird es ganz schlimm, denn jetzt kommt auch noch Sendungsbewusstsein dazu – dass für wahre Toleranz ein offener Blick notwendig ist, der nicht vom eigenen Unglück eingetrübt ist. Hallo, ich war überhaupt nicht angesprochen! Niemand von denen kennt mich! Ich fühle mich durch deren Aussagen durch meinen BILDSCHIRM und irgendwelche WLAN-Wellen persönlich angegriffen! Wie gesagt, in Abgrenzung bin ich total schlecht.

Deswegen habe ich neulich auch Rotz und Wasser geheult. Ich habe nicht etwa ein paar Tränen verdrückt und ein bisschen geschnieft, nein, ich habe geschluchzt und konnte mich kaum beruhigen, denn das Elend aller Kinder dieser Erde brach über mir zusammen. Anlass war eine Privatsender-Doku-Soap über einen Vater und seine 11 Kinder, welche eine böse, ignorante Mutter hatten und die am Ende in Kinderheime mussten, wo sie ihren Vater vermissten, der sich viel Mühe gegeben hatte, aber überfordert war und deswegen einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Die Kinder weinten ein bisschen und kämpften dann tapfer und aufrecht gegen ihr Schicksal an und ich war weder tapfer noch aufrecht, sondern zog mir deren Elend mal kurz aus dem Fernseher in mein Innerstes, und zwar Elend pro Kind mal 11 zuzüglich Kinderelend insgesamt.

Und jetzt kommts, ich bin ziemlich sicher, dass die meisten, die das hier lesen, das Phänomen erstens auch kennen und zweitens total sympathisch finden. Und deswegen muss ich mir zwecks innerer Klärung öffentlich eine küchenpsychologische Frage stellen. Sie lautet: Will ich mich wirklich mehr abgrenzen? Dann nämlich wäre ich ja emotional ignorant, überhaupt nicht mehr mitfühlend, eingeschlossen in meine eigene popelige Erlebniswelt, gleichsam ohne Verbindung nach außen. Sicher, der Konzertknutscher tangierte mich nicht mehr, ebensowenig jede Meinungsäußerung, die nicht eine direkte Anrede beinhaltet und keine Schmonzette könnte mir mehr etwas anhaben. Aber ich würde eben keinem Alki mehr Erste Hilfe leisten und kein Geld spenden und niemanden mehr trösten und dann tröstet mich auch keiner mehr und dann kann ich auch gleich als Eremitin in eine Höhle gehen!

Nee, das ist nichts, ich finde sogar Gartenzäune doof und da muss ich halt damit leben, dass mir mal Nachbars Hund ins Beet kackt, er meint ja schließlich nicht mich.

Bellende Hunde


Ich finde es erstaunlich, dass sich nicht mehr Menschen gegenseitig umbringen. Verbringe ich einen Tag gehäuft an öffentlichen Orten mit vielen Menschen, begegnet mir so viel Aggression, dass ich mir abends selbst die Schultern massieren muss, um mich zu trösten. Meine nähere Umgebung ist quasi voll von Kriegsfronten, verhärteten Parteien, die um irgendwas kämpfen, ich nehme an, um Territorium. Oder Kulturgut. Oder Sexualpartner, was weiß ich.

Zum Beispiel vorgestern im Bus, ich fuhr mittags mit Kinderwagen mit dem 15er, der um diese Zeit immer knallvoll ist. Kinderwagenmuttis im Bus bilden eine eingeschworene Gemeinschaft, da alle ähnliche Erfahrungen gemacht haben, das schweißt zusammen. Das äußert sich unter Anderem darin, dass man sich zur Not an die Schlaufen unter der Decke hängt, damit auch der fünfte Kinderwagen noch hineinpasst, denn jede kennt die Schmach, im Regen mit hungrigem Kind und müden Füßen nicht mehr mitgenommen zu werden, weil der Bus voll ist. Und genau so war es vorgestern. Wir waren schon zu viert im Mittelraum des Busses, in den Gängen schlugen sich die Fahrgäste gegenseitig die Taschen in die Hüften und die, die saßen, hatten den Po eines Stehenden im Gesicht, und dann kam Mutti Nummer 5. Wir vier machten uns bereit, klemmten unsere Wagen an- und ineinander, hielten die Luft an und signalisierten ein Herzlich Willkommen-Komm rein-Passt schon. Und es passte auch, es passt immer irgendwie.

Etwas an diesem Vorgang rief die gegnerische Partei auf den Plan, es ist die Partei der  Kinderwagenhasser. Diese ist ebenfalls eine eingeschworene Gemeinschaft, da auch ihre Mitglieder ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Zum Beispiel gehen sie gemütlich Arm in Arm mit ihrer neuen Eroberung Bummeln und kriegen plötzlich einen Kinderwagen in die Hacken. Wenn sie sich umdrehen, sehen sie zwei schnatternde, Kinderwagen schiebende Muttis nebeneinander, die sich keinen Milimiter zur Seite bewegen und nur kurz unwillig gucken, weil sie nicht genug Platz haben, und das obwohl sie vor einigen Monaten unter Schmerzen die Rentenverischerungsbeiträge für alle auf die Welt gebracht haben. Das Pärchen muss sich also auf Zehenspitzen seitwärts ans Schaufenster klemmen und warten, bis der Treck vorbeigezogen ist.

„Dass die mit dem Kinderwagen nicht draußen geblieben ist, versteh‘ ich nicht“, pöbelte also ein Kinderwagenhasser in den Bus hinein, ohne die Betroffene anzusehen. Die Luft knisterte. „Wir schmeißen DICH gleich raus!“, nahm eine Mutti den Fehdehandschuh auf. Ich sah in ihr Gesicht und wusste, nur ihre Erziehung hielt sie von der Begehung eines Mordes ab. Knapp. Ich überlegte kurz, ob ich eine Maßnahme ergreifen musste, zum Beispiel mich flach mit meinem Kind auf den Boden legen oder die Busscheibe mit dem Nothammer einschlagen oder 112 rufen. Da merkte ich, dass die wütende Kinderwagenmutti, die übrigens gar nicht gemeint war, nicht wusste, wer gesprochen hatte. Genausowenig, wie der Kinderwagenhasser wusste, wer so rüde geantwortet hatte. Daher konnten sie also nicht aufeinander losgehen, die Gefahr eines Krieges mit mehreren Toten war fürs erste gebannt. Beide schimpften zwar noch eine Weile vor sich hin, aber wir kamen alle unversehrt an unseren Zielorten an.

Hierzu mache ich mir mehrere Gedanken, einer beinhaltet das Erstaunen, dass diese Drohgebärden in den meisten Fällen doch noch friedlich enden, obwohl sie das Potenzial zu Mord und Totschlag hätten. Müssen wir am Ende froh sein, dass wir so WENIGE Kriege auf der Welt haben, weil der überwiegende Teil der Menschheit so erzogen ist, dass man möglichst niemanden umbringt? Oder haben wir so VIELE Kriege auf der Welt, weil man all diese Menschen zu irgendwelchen Interessengemeinschaften zuordnen und dann als Kriegsunterstützer verwenden kann, weil diese Aggressionen dem Menschen per se innewohnen und beliebig genutzt werden können?

Dann wandern meine Gedanken ins Tierreich. Dort gibt es vielfältige Formen von Drohgebärden, das heißt Tiere signalisieren, dass das gegnerische Tier etwas tun oder unterlassen soll, da es ansonsten damit rechnen muss, zerfetzt zu werden. Dies dient, soweit ich informiert bin, im weitesten Sinne zur Erhaltung der Art. Muss also der Kinderwagenhasser in den Bus pöbeln, um zu signalisieren, dass er sich von zu vielen Kinderwagen in seiner unmittelbaren Nähe bedroht fühlt? Und muss die Kinderwagenmutti mit einer noch expliziteren Drohung reagieren („wir schmeißen DICH gleich raus!“), damit sie und ihr Kind langfristig überleben können? Dieser Gedanke wiederum macht mich insofern etwas stutzig, als dass ich selbst diesen Instinkt überhaupt nicht habe. Zwar fühle ich mich durchaus verschiedenen Gruppen zugehörig, aber nichts läge mir ferner, als meine Zugehörigkeit auf diese Weise zu signalisieren. Nicht eine Sekunde war ich versucht, einzugreifen, schließlich erinnere ich mich gut an meine Zeit ohne Kinderwagen am Schaufenster klemmend. Bin ich degeneriert? Domestiziert? Verklemmt? Ignorant? Suizidal? Wäre die Menschheit längst ausgestorben, bestünde sie aus Individuen wie mir? Oh mein Gott.

Ach was, das ist alles viel harmloser, bellende Hunde beißen ja nicht.

Ode an das Vergessen


Heute habe ich eine Stunde lang im Fitnesscenter Sport gemacht. Davon habe ich 55 Minuten darüber nachgedacht, ob ich gestern oder vorgestern zuletzt meine Haare gewaschen hatte. Ich wasche sie alle 2 Tage und wollte wissen, ob ich nachher beim Duschen das Shampoo mitnehmen muss. Ich bin wahnsinnig geworden. Um diese Frage zu beantworten, bin ich die letzten drei Tage minutiös durchgegangen, vom Aufwachen bis Insbettgehen. Dabei bin ich noch wahnsinniger geworden, da sich immer mehr Gedächtnislücken auftaten. Je angestrengter ich nachdachte, desto schlimmer wurde es, und das Schlimmste war, dass jede einzelne Minute der letzten drei Tage plötzlich eine unglaubliche Wichtigkeit hatte. Ich meine, es gab überhaupt keinen Unterschied mehr, ob ich über den Tod nachgedacht oder meine beste Freundin in ihrer Ehekrise begleitet oder den Stöpsel aus der Spüle gezogen hatte. Buddhistisch betrachtet ist das, glaube ich, ein erstrebenswerter Zustand. Alles im Hier und Jetzt und mit der Demut für den Augenblick erleben. Obwohl der buddhistischen Lehre durchaus nicht abgeneigt, halte ich dies für Schwachsinn. Das wurde mir in den letzten 5 Minuten meiner Sportstunde deutlich, als ich auf die Idee kam, dass es völlig wurscht ist, wann ich meine Haare zuletzt gewaschen hatte. Entscheidend war ja allein, ob sie fettig waren oder stanken, was beides nicht der Fall war.

Nein, Susanne, Du lebst nicht an Dir selbst vorbei, nur, weil Du vergessen hast, wann Deine letzte Haarwäsche war. Nein, Dein Leben ist deshalb noch kein Fluss automatisierter, gleichsam mechanischer Abläufe, die ohne Dein Wissen geschehen. Nein, Du musst nicht ständig und alles ganz bewusst und mit Freude machen und vor Allem musst Du Dich nicht Dein Leben lang daran erinnern!

Oh welch Gnade, die eine oder andere Belanglosigkeit dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Wie schön, dass ich nicht auch noch die Geburtstage der Männer meiner Freundinnen auswendig weiß, die mir Jahr für Jahr auch nur gratulieren, weil ihre Frauen sie daran erinnern. Was für ein Genuss, nicht alle Minister ihren Ämtern zuordnen zu können, niemand möchte so viele hässliche Brillen und Schlupflider in seinem kostbaren Hirn abspeichern. Juchhe, ich weiß nicht mehr, was ich vorgestern gefrühstückt habe! Es ist ohnehin verdaut und der Biosphäre zurückgegeben! Ja, ich habe den Vornamen meiner Nachbarin vergessen und könnte sie niemandem vorstellen, der bei einem zufälligen Flurtreffen neben mir stünde, Hurra, ich kann sie schließlich einfach fragen, wie sie nochmal heißt! Ja, ja, JA, ich wollte noch etwas Wichtiges aufschreiben und weiß nicht mehr, was, JA, ich habs vergessen und ich werde NICHT daran sterben, im Gegenteil, mein Leben wird spannender, denn ich werde irgendwann eine böse Überraschung erleben und JA, ich werde eine Lösung dafür finden, ganz spontan und sie wird brillant sein, YES, denn in meinem kleinen Hirn ist genug Platz für Spontanlösungen, weil es nicht mit lauter unwichtigem Kram vollgemüllt ist, JA!

Herrlich, die letzten 5 Minuten haben richtig Spaß gemacht.

Abkassiert


Mir ist ein bisschen unheimlich, es geht um meine Rolle in der deutschen Wirtschaft. Neulich kaufte ich bei Ikea einen riesigen Teppich. Normaler Weise gehört es zu den Ikea-Kunden-Pflichten, große Gegenstände optimal auf dem Wagen zu platzieren, damit die Kassiererin gut rankommt. Vorletzten Samstag aber war es anders, es gab nämlich eine SB Kasse. Keine Kassiererin, die sich mühsam lächelnd aus der Kasse hängt, um den EAN-Code zu finden, sondern ICH höchstselbst durfte mit einem Scanner um meinen vorbildlich gepackten Einkaufswagen herumlaufen. Ich habe meinen Einkauf selbst abkassiert! Als ich versehentlich den Bonsai vergaß, eilte mir flugs eine freundiche Servicekraft zur Hilfe, sie ist für drei Kassen zuständig und kommt nur im Problemfall zum Einsatz. So wurden zwei Mitarbeiterinnen gespart.

Und nun das Unheimliche: Ich kann gar nicht sagen, wie toll ich das fand! Kein Fünkchen Protest loderte auf, der Kapitalismus frisst seine Kinder, oder so. Keine Empörung, weil Ikea seine ureigene Aufgabe, nämlich meinen Einkauf abzuwickeln, mir ganz allein überließ. Ich war wahnsinnig stolz, dass ich es so gut konnte und es jedes Mal piepste, wenn ich den Scanner über die schwarzen Streifen hielt. Ich fühlte mich aufgewertet, dass man mir so etwas zutraute. Und frei.

Damit ich mich noch besser fühle, hätte ich folgende Vorschläge zu machen:

  • Statt Kleidung könnt ihr auch Schnittmuster bei Zara an die Bügel hängen. Wenn ihr noch ein paar Nähmaschinen im Laden zur Verfügung stellt, komm ich schon klar.
  • Lasst mich meine Aktienfonds selbst zusammenstellen, ich arbeite mich gern in ostasiatische Märkte ein. Falls ich doch mal eine Frage habe, reicht eine Hotline.
  • Mein neues Mobiltelefon brauche ich nur als Bausatz, so lange alles mit dem Ikea Imbus zusammenzuschrauben ist, hab ich kein Problem damit.
  • Mein nächstes Kind kann ich auch allein zur Welt bringen, das haben vor mir auch schon Frauen geschafft. Wenn ich nicht recht weiter weiß, kann ich ja immer noch eine Hebamme anrufen.
  • Zur Unterhaltung drehe ich meine Filme künftig einfach selbst und auch ein Buch kriege ich zusammengeschrieben. Eine eigene Internetseite habe ich auch schon und statt Theater und Konzert reicht Sing Star vorm Spiegel völlig aus. Damit wäre die Medien- und Kulturszene obsolet.

Worauf ich allerdings ungern verzichten würde, wären Piloten. Klar, zur Not und mit regelmäßgem Funkkontakt zum Tower krieg ich auch nen Vogel auf den Hudson River gesetzt, aber mir wird schnell schlecht, und dann bin ich doch ein bisschen unsicher.

Die Deutschlandfahne in der Yuccapalme


Wie und wo möchte ich später einmal leben? Diese Frage stellt man sich üblicher Weise das erste mal zwischen 16 und 20. Man hat große Pläne. Interessanter Weise stelle ich mir diese Frage heute, mit knapp 40, immer noch. Dabei ist längst später. Vielleicht, weil keiner der großen Pläne (Entwicklungshelferin in Afrika, 3 Kinder, großes Haus, in dem auch Bettler aus der Gegend bewirtet werden, kreativer Beruf, der mich erfüllt und reich macht…) bisher umgesetzt ist. Aus lauter Verzweiflung, dass ich kurz vor der Gezeitenwende mit 40 weder meine Jugendideen noch nennenswerte Alternativen in der Pipeline habe, stelle ich andauernd fest, wie ich auf keine Fall leben möchte. Zuletzt heute.

Ich saß, zusammen mit zwei schlafenden Babys, bei Minusgraden im feinen Blankenese im Campingbus meiner Freundin, und fror. Es wäre zu umständlich zu erklären, wie es dazu kam, jedenfalls war meine Freundin beim Arzt und draußen war Nebel, links von mir rauschte der Verkehr vorbei und rechts lag ein depressiver Bürgersteig am Straßenrand. Aus meinem Busfenster sah ich 2 Schaufenster, KIND Hörgeräte und einen spießigen Frisör (Coiffeur). Kein Mensch kam vorbei, kein Wind wehte, es regnete nicht einmal. Ich war, eingeschlossen in einen Käfig, mitten im Nichts. Mein Gott, dachte ich, hier möchte ich auf keinen Fall leben. Ein an sich überflüssiger Gedanke, denn es steht gar nicht zur Disposition, dort zu leben oder überhaupt irgendwo anders. Dann wachten die Babys auf und meine Freundin kam vom Arzt zurück. Ich schnallte mein Kind vor den Bauch und stieg in die nächste S-Bahn, um nach Hause zu fahren. Dort erreichte mich auf meinem Blackberry (!) die E-Mail meines besten Freundes, der gerade in Frankfurt beruflich mit Bänkern zu tun hat. Er schrieb, die seien alle sehr nett, aber an Humor nicht gewöhnt. Wenn man im Fahrstuhl einen mittelwitzigen Spruch bringe, dann könnten die sich vor Lachen nicht mehr halten. Ansonsten unterhielten sie sich über inserts auf web-application-servern, die deployed werden müssen. Bin ich froh, dachte ich nun, dass ich nicht in Frankfurt hocke und mit einem von denen verheiratet bin. Als hätte mich je einer gefragt. Dann stieg eine ältere Frau mit Sturzhelm in das Abteil ein, sie hatte so etwas wie das Tourette-Syndrom, jedenfalls redete sie laut und unkontrolliert vor sich hin, während sie, offenbar völlig entspannt, gleichzeitig in der Morgenpost las. „Ja nee, ich hab ja ne Porsche-Garage auf der Shelltankstelle!“, wiederholte sie mehrfach. So, dachte ich, das ist also das Leben. Mir fiel dieser Spruch von John Lennon ein, oder wer immer sich den ausgedacht hat: „Leben ist das, was stattfindet, während Du fleißig andere Pläne schmiedest“. So ist es. Vielleicht sitze ich morgen mit Helm auf dem Kopf in der S-Bahn und brülle Nonsens in die Gegend.

Oder ich bewohne ein Reihenhaus am Rande der Stadt. Mit selbst gebasteltem Fensterbild und weiß gestrichenem Zaun (von wegen Bettler am Tisch!). SPIEGEL ONLINE schreibt, das Reihenhaus sei in Deutschland wieder im Kommen, und weil es gemeinhin nicht mehr so viele Wohnsünden enthielte, dürfe auch einmal eine Deutschlandfahne in der Yuccapalme stecken. (Artikel).

Während ich also in Gedanken mit meinem Sturzhelm rhythmisch gegen einen Yuccapalmentopf schlage und meiner Deutschlandfahne wirres Gedankengut mitteile, fällt mir noch ein großartiges Statement zum Thema Lebensform ein. Es entschuldigt nahezu jeden Ausfall und stammt von der französischen Justizministerin, die ja Anfang Januar ein uneheliches Kind gebar und niemandem sagt, wer der Vater ist. Sie sagt dazu: „Mein Privatleben ist wahnsinnig kompliziert.“ Lässig, oder?

Bestellung


Beim Verkauf meiner Adresse und meiner persönlichen Daten ist etwas schief gegangen. Ich glaube, die Datenhändler haben bei meinem Geburtsjahr geschlampt. Ich bekam kürzlich eine Einladung, sie enthielt eine Busfahrkarte („natürlich gratis!“), die Aussicht auf einen bunten Abend mit meinen Lieblingsstars der Volksmusik („natürlich gratis!“) sowie ein Abendessen in Form einer Schlachteplatte, die schon auf dem Werbefoto so ekelhaft und fettig aussah, dass ich nie wieder Fleisch essen möchte („natürlich gratis!“).

Sehr verehrte Adresshändler, diese Post möchte ich nicht bekommen. Ich möchte einen Katalog mit der neuesten Schuhmode, sie soll wertig sein (meinem Einkommen entsprechend), einigermaßen bequem (ich bin fast 40), modisch aber nicht lächerlich. Ihr könnt mir auch Empfehlungen für Individualreisen schicken, die auch mit Kind machbar sind. Sendet mir gern Buch- Musik- und Filmkataloge, Interieurvorschläge zwischen Design und Flohmarkt, Tipps für natürliche Kosmetikprodukte, die mich jünger machen, für die aber keine Tiere ermordet wurden (keine Werbung für Schönheits-OP-Kliniken, die bitte erst in etwa 10 Jahren) sowie sämtliche Infos zum Erwerb bezaubernder, gesunder, schadstofffreier, wahrnehmungsfördernder und ethisch-moralisch-sozial-pädagogisch-politisch korrekter Kinderprodukte mit Probepackungen.

Noch einmal zum Mitschreiben: ich bin 1970 geboren und weiblich. Ich befinde mich in mittlerer Einkommensklasse und habe einen akademischen Hintergrund. Ich lebe in der Großstadt und halte mich für individueller, als ich bin. Ich bevorzuge moderne, desgin orientierte und qualitativ hochwertige Produkte, ohne verkrampft zu sein. Dabei mache ich gern ein Schnäppchen, ich freue mich über das Gefühl, 50 -70 % gespart zu haben, auch wenn ich das Produkt gar nicht benötigt hätte. Ich halte mich für intellektueller als den Durchschnitt, möchte mich dabei aber nicht übermäßig anstrengen. Ich habe ein kleines Kind, für das ich das Beste will, ohne es zu überfordern. Ich bin nicht sonderlich schlank, will das aber nicht wahrhaben. Ich reise gern, treibe gern aber zu wenig Sport, ich bin kulturell interessiert und orientiere mich mit ironsicher Distanz (manchmal auch ohne) an den Protagonisten in GALA und BUNTE. Ich ernähre mich weitgehend gesund und genussvoll. Meine Schuhgröße ist 39.

Meinen Penis möchte ich nicht verlängert haben und einen Kredit werde ich nur über meine Hausbank aufnehmen. Einen Lebenspartner habe ich schon. Ich habe keine komischen Krankheiten und stehe nicht für medizinsiche Tests zur Verfügung, jedenfalls nicht solange ich lebe.

So, das sollte reichen, nun hätte ich gern passende Post, gern auch per E-Mail, meine jeweilige Adresse habt Ihr ja.

Originalfoto aus der Einladung

Der arme Taxifahrer


So. Meine Tochter wird nun um 8 ins Bett gebracht und schläft dann 12 Stunden. Das macht mein Leben besser, unter Anderem kann ich wieder in meinen Blog schreiben, da ich mehrere Gedanken nacheinander fassen und notieren kann. Außerdem kann ich nun abends wieder ausgehen, denn einen Notfallschnuller kann ja jeder mal in das Kind stopfen, falls es aufwacht. Diese neu gewonnene Freiheit brachte mich gestern auf die Weihnachtsfeier meiner Firma. Mit dem Taxi. Über den Taxifahrer, der die Hausnummer am falschen Ende der Straße wähnte und deshalb einen Riesenumweg fuhr, für den er statt sich bei mir zu entschuldigen die arme Straße verantwortlich machte, weiß ich nun Folgendes:

  • Seine Mutter liegt im Sterben
  • Sein Sohn ist 17 und missraten
  • Das liegt an seiner fürchterlichen Exfrau, die ihm alles durchgehen lässt. Sogar, dass er die Schule nun ohne Abschluss verlässt, obwohl er einmal ein guter Gymnasiast war.
  • Sie ist auch Schuld daran, dass der Junge die falschen Freunde hat. Dafür hat er nämlich ein Händchen. Deswegen nimmt er nun Drogen und muss von Polizeiwachen abgeholt werden.
  • Im Krankenhaus um die Ecke hat er ein Praktikum gemacht, ist aber rausgeflogen, weil er ausnahmsweise einmal den Rat seines Vaters befolgt hatte (zeige Interesse!) und ständig in die Visite hineinquatschte. Das kann ja auch nichts werden.
  • Eigentlich hat der Sohn bei seiner Mutter gelebt aber die ist nun einfach weggezogen. Er, der Taxifahrer, muss nun auslöffeln, was sie alles vermasselt hat.
  • Ganz spontan und ohne Vorankündigung hat ihn heute auch noch seine Freundin verlassen und ist lesbisch geworden.

Lieber Taxifahrer, ich möchte Dir zurufen:

  • Dein Sohn ist ganz prima, jeder normale Mensch gerät unter solchen Umständen ins Wanken!
  • Wenn Du an Deinen Sohn nicht glaubst, wird er noch 1000 mal irgendwo rausfliegen. Aber gut, dass Du selbst es so wahnsinnig weit gebracht hast! Sicher ist Dein Sohn ganz neidisch auf seinen Super-Vater!
  • Es ist nicht der Fehler der Straße, dass Du keine Ahnung hast, wo Nummer 53 ist und von welcher Seite man heranfahren muss. Es ist Dein Job, dies zu wissen oder rechtzeitig herauszufinden. Ich bezahle Dich dafür.
  • Das mit Deiner Mutter tut mir Leid, vermutlich ist sie der letzte Mensch auf Erden, der Dich liebt.
  • Ich glaube, wenn ich längere Zeit mit Dir zusammen wäre, würde ich durchaus auch mit dem Gedanken spielen, meine lesbische Seite zu entdecken. Vorsichtshalber.

Ein bisschen was davon habe ich ihm gesagt, zum Beispiel dass er an seinen Sohn glauben soll. Ich fand, der arme Junge brauchte einen Fürsprecher und ein bisschen Super Nanny steckt halt auch in mir.

So, und zum Abschluss hier ein Artikel in ZEIT ONLINE über Frankfurter Taxifahrer, er hat für mich etwas Tröstliches. In der selben Rubrik gibt es ein paar Artikel über die Super Nanny. Ich stelle fest, dass mein Leben GANZ dicht dran ist am Puls der Zeit. (Artikel).