Pickel

(Über die Pubertät des Konzepts „Working Mom“)


Wir wissen ja alle, wie es geht. Das mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, meine ich. Für uns Frauen gibt es tausend Vorbilder, tausend Möglichkeiten, tausend Fachbücher, tausend eigene Ideen und eine Million Kommentare dazu. Allein, hier und da gibt es klitzekleine Unreinheiten im schönen, gepflegten Antlitz des Konzepts „Working Mom“. Bisweilen auch Akne. Wie aus heiterem Himmel schreit man plötzlich sein Kind an, weil es seine Stiefel extra langsam zumacht, diese kleine Kröte, die einen nur ärgern will und EXTRA nicht hört, grad wo man es eilig hat, du gemeines Aas! Huch, war wohl ein bisschen heftig. Besonders wir Frauen gehen dann hart mit uns ins Gericht. Wir haben unser Kind angeschrieen! Wegen sowas! Etwas milder sind wir mit uns, wenn wir unseren Mann anschreien, weil er schon wieder den Geschirrspüler so dermaßen bekloppt eingeräumt hat, dass man alles nochmal von vorne machen muss, das kann doch nicht so schwer sein, Mann, TELLER zu den TELLERN und man kann das Ding auch ganz aufmachen und hinten was reinstellen, verdammt nochmal! Huch, war wohl ein bisschen heftig. Und plötzlich sind wir sauer auf die kinderlose Kollegin, die wegen eines harmlosen Schnupfens zwei Tage zu Hause geblieben ist, ZWEI TAGE, wegen SCHNUPFEN, von Schnupfen reden wir nichtmal und jetzt sitzen wir da und ausgerechnet heute macht der Kindergarten früher zu, als hätte sie’s geahnt, die faule Socke! Huch, war wohl ein bisschen heftig.

566705_web_r_k_by_benjamin-thorn_pixeliode.jpg

1

Wo kommen die her, diese Pickel in unserem sauber ausgeklügelten Konstrukt, das uns glückliche Kinder, tolle Väter und totale Erfüllung versprochen hat? Es ist noch in der Pubertät und das bedeutet unter Anderem, dass ausgerechnet wir aufgeklärten Frauen, die alles reflektieren, verstehen, einordnen und relativieren können, unverhofft an Grenzen kommen. Und dann werden wir bisweilen so, wie wir nie sein wollten. Was führt dazu, dass das Leben hinter der schönen und lustigen Facebook-Familien-Heile-Welt-Fassade hier und da ganz schön aus dem Ruder läuft? Das:

1.: Unser Anspruch

489957_web_r_k_by_konstantin-gastmann_pixeliode.jpg

2

Viel berichtet, aber hier unbedingt noch einmal an erster Stelle zu nennen. Wir verlangen von uns Frauen, beruflich dort einzusteigen, wo wir vor den Kindern aufgehört haben und dann Karriere zu machen. Oder mit unserer Selbstständigkeit den ganz großen Wurf zu landen. Mit all der Verlässlichkeit und Kraft, die das erfordert, so, dass keiner merkt, dass wir nächtelang nicht geschlafen haben oder vor schlechtem Gewissen fast platzen, weil das Fieberkind seit 3 Tagen bei Oma wohnt. Im Kindergarten wollen wir dann erfüllt vom Tag voller Vorfreude ankommen und die Launen unserer Kinder mit einem milden Lächeln wegstecken. Dann flugs nach Hause, auf dem Rückweg noch schnell im Supermarkt vorbeischauen (ohne Peinlichkeiten und ja, es ist uns peinlich, all das, was Kleinkinder im Supermarkt so anstellen!) und zu Hause eben noch ne Wäsche rein, und dann wird gebastelt. Oder gesungen. Oder sich kreativ verkleidet. Auf dem Bio-Abendbrotstisch steht später pünktlich die ausgewogene Mahlzeit, zu der der Mann, falls er es rechtzeitig schafft, herzlich eingeladen ist.

244971_web_r_k_b_by_rainersturm_pixeliode.jpg

3

Nach dem einstündigen Insbettgehritual inklusive Kuscheln treffen wir uns dann mit unserem Mann bei einem guten Rotwein (Doppelverdiener!) auf dem Sofa. O.K., nur ne DVD statt Kino, aber man muss halt Opfer bringen. Wir wollen ja auch dem Mann noch die neuen Dessous zeigen, die wir im Internet gekauft haben, huiuiui, kicher, Kerze an und ab gehts! Und das jeden Tag, außer am Wochenende, da gehen wir mit der Freundin Kaffee trinken und der Mann „macht die Kinder“. Total gern natürlich. Ach, ich hab das Sportprogramm vergessen, hier gehen die Ansprüche durchaus auseinander. Manche verlangt von sich nur einmal die Woche Fitnesscenter (Doppelverdiener!), andere die tägliche Joggingstunde, sobald der Beckenboden wieder hält. Wer denkt an Omas Geburtstag? Kinder geimpft? Vorsorgeuntersuchungen noch im Plan? Passen noch alle Schuhe? Eigene Frisur noch zeitgemäß? Milch noch gut? Trotzphasenerziehungsratgeber-Workshop besucht? Ostereier ausgepustet? Adventskranz geklöppelt? Ladies, wir sind wahnsinnig! Niemand kann das auf Dauer schaffen, und wenn doch, dann nur mit entsprechenden Rahmenbedingungen, und damit kommen wir zum nächsten Punkt:

2.: Das Netzwerk

531148_web_r_k_by_angelina-s_pixeliode.jpg

4

Um auch nur der Hälfte unseres Anspruchs gerecht zu werden, brauchen wir einen Verbund. Ob der nun erkauft ist durch zusätzliches Betreuungspersonal oder durch Familie und Freunde von Natur aus da ist, spielt für das Gelingen keine Rolle. Wichtig ist, dass er groß genug und von Vertrauen geprägt ist. In den wenigsten Fällen ist das Netzwerk aber groß genug. Wenn es gut läuft gibt es eine Hauptoma und eine Zweitoma und eine Freundin oder Babysitterin neben dem Kindergarten. Oft gibt es das aber nicht, und dann steht man da mit ausgefallenem Plan A, wenn das Kind krank wird (oder man selbst!) und Plan B geht schon nicht mehr, weil man die Schwester nicht schon wieder fragen kann, die war letztes mal schon den Tränen nahe, kann aber nicht Nein sagen. Ja, wir Frauen können ausgezeichnet nicht fragen wollen und nicht nein sagen können. Standby-Babysitter sind teuer und es dauert Jahre, bis man genug Mütter kennt und die Kinder groß genug sind, damit man sie für ein paar Überstunden bei Freunden unterbringen kann. Aus irgendeinem Grund funktioniert die Vernetzung im Kindergarten, in dem fast alle Mütter das gleiche Problem haben, noch nicht optimal. Die geteilte Ersatzomi aus dem Viertel? Die Ausnahme. Zuverlässige Reihumbetreuung? Fehlanzeige. Da ist noch Luft nach oben. Ich glaube, das Problem liegt darin, dass sich keine traut, zu fragen. Es ist nicht gerade en vogue, Engpässe in der Familienorganisation offensiv anzusprechen, was sehr schade ist. Ist es aufgefallen? Bisher war die Rede hier hauptsächlich von den Müttern. Aus folgendem Grund:

3.  Die Rolle der Väter

418348_web_r_by_oliver-weber_pixeliode.jpg

5

Auch hierüber ist hinlänglich analysiert, berichtet, und diskutiert worden (Der neue Vater, witzige Windelbücher von Vätern und so weiter). Was aber noch längst nicht ausreichend beleuchtet ist, ist der Vater mit berufstätiger Frau im eigenen beruflichen Umfeld. Über den wird überhaupt nichts geschrieben. Er ist aber eine tragende Säule im Familienmodell mit „Working Mom“. Jede berufstätige Frau mit Kind kennt den Moment: die wichtige Besprechung hat gerade erst angefangen, da kommt der Anruf: Kind krank. (Es wird natürlich die Mutter angerufen). Und los gehts: Cool bleiben, sich elegant aus der Besprechung stehlen, die KiTa vertrösten („Ich komm so schnell ich kann, ich muss nur noch schnell ein paar Kleinigkeiten regeln“), die Schwiegermutter anrufen, die kann nicht, selber krank, zeitgleich die Kollegin ins Thema einarbeiten, drei E-Mails schreiben, zwei weitere Besprechungen absagen, eine davon oberwichtig, das zweite Kind für den Nachmittag parken, zur Kita hetzen. Auf dem Rückweg ruft Frau den Mann an, dem das alles total leid tut. Echt. Hier ist ein Knackpunkt, und der liegt in vielen Fällen nicht in der Bereitschaft des Vaters, sondern in dem oft noch fehlenden Selbstverständnis Vorgesetzter, dass in solchen Situationen auch Väter gefragt sind. Es ist längst nicht üblich, dass Väter beruflich entbehrlich sind. Bei Müttern weiß jeder, dass es eben nicht anders geht, und je nach dem wird es zähneknirschend geduldet oder sogar unterstützt. Die Vorgesetzten von Vätern sind aber oft entweder selbst Väter, bei denen das auch nie ging, oder eben noch keine Väter. Auch hier ist noch viel Luft nach oben. Es ist eine gesellschaftliche und kulturelle Frage, keine wirtschaftliche oder individuelle. Es muss kollektiv eingefordert werden, dass die bezahlte Arbeit in solchen Fällen auch von Vätern unterbrochen werden kann.

71315_web_r_b_by_uwe-steinbrich_pixeliode.jpg

6

Es muss also eine erste Generation geben, die ganz selbstverständlich diese Rolle annimmt. Jeder Arbeitgeber wird damit umgehen können, aber kaum einer wird es von sich aus anbieten, wenn es nicht eingefordert wird. Erst dann kann das Modell aufgehen. Wenn beide arbeiten (egal wie viele Wochenstunden) sind beide gefordert, wenn die Familie ruft. Beide prüfen ihre Verfügbarkeit bei Notfällen und bei wem es weniger weh tut, der geht. So einfach wäre das dann. Ist es aber meistens noch nicht.

Ich bin trotz dieser Herausforderungen, die wir noch zu bewältigen haben, überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir, das ist meine eigene Familie, das ist aber auch meine Stadt, mein Land und viele andere westeuropäische Länder auch (in Abstufungen). Das liegt unter Anderem daran, dass das so schick klingende und dezent geschminkte Konzept der mordernen „Working Mom“ meist gar kein selbstgewähltes mehr ist, sondern einer finanziellen Notwendigkeit entspringt. Das gilt inzwischen für alle gesellschaftlichen Schichten, außer der obersten. Daher taugen auch mediale Vorbilder in dieser Hinsicht nichts. Sicher sind Frau Klum und Frau von der Leyen und Frau Lopez sehr tüchtige Frauen, aber eben tüchtige Frauen mit Kindermädchen. Nun können wir dies neidvoll feststellen und weiter Pickel drücken, oder wir freuen uns an unseren neuen Möglichkeiten und gestalten das Konzept „Working Mom“ beim Erwachsenwerden mit. Und fangen bei uns an.

Ich kaufe dieses Jahr einen Adventskranz. Ein Anfang.

 

(Bildquellen: 1: Benjamin Thorn 2: Konstantin Gastmann, 3: Rainer Sturm, 4: Angelina S., 5: Oliver Weber, 6: Uwe Steinbrich, Alle: pixelio.de)

Zu Hause in O.


Heute schreibe ich über unser Haus in Ottensen. Ich bilde mir ein, dass es das so nur in Hamburg in Ottensen geben kann, was natürlich Quatsch ist, aber lasst mich. In diesem Haus wohnen Dorfbewohner, wie es sie schon seit hunderten von Jahren gibt, bloß übereinander. Das Besondere ist, dass alle irgendwie miteinander verbunden sind, keiner geht verloren, man nimmt sich wie man ist und wenn einer in Not ist oder einsam, kocht man Suppe. Im Sommer trifft man sich zufällig im Garten. Wer lieber allein sein will, geht in den hinteren Bereich, der fängt bei der Birke an. Wer Gesellschaft sucht, setzt sich im vorderen Bereich ins Gras, nah bei uns. Wir wohnen nämlich unten in der Wohnung mit Gartenzugang. Deswegen ist unsere Wohnung im Sommer auch die Klowohnung für alle. Ich mag es, wenn viele vorn bei uns sitzen, das spart den Gang in die Stadt (also Ottensen downtown).

Unsere Wohnung ist aber nicht nur unten, sondern auch hinten. Ich kokettiere gern damit, dass wir im Hinterhaus wohnen, im Gesindetrakt. Um zu uns zu kommen, muss man einen versteckten Nebeneingang nehmen, er führt direkt zu den Mülltonnen. An denen geht man vorbei durch einen geschmacklosen, dreckigen Gang und dann gelangt man in einen kleinen, verwahrlosten Innenhof. Dort muss man sich trauen, hinten wieder ins Haus hinein zu gehen und wenn man sich endgütlig verloren glaubt, nimmt man die erstbeste Tür und geht einfach die kleine Treppe im Hinterhaus hinauf bis ins Hochparterre und schon darf man bei uns klingeln. Falls ich mal ein Notfall bin, richte ich mich darauf ein, langsam und allein zu verenden, bevor ich gefunden werde.

Aber dann: Unsere Wohnung. Gemütlich, ein bisschen zu verwinkelt, ein bisschen zu dunkel, jeder Quadratzentimeter genutzt, wir wohnen zu viert in 3 Zimmern plus Kammer, und ausgestattet mit einer Loggia und eben dem Zugang zu einem 800 qm großen Garten. Wir als Hinterhausbewohner haben übrigens das einmalige Privileg, gleichzeitig in Ottensen und im feinen Othmarschen zu wohnen, denn genau unsere Loggia ist die Grenze. Je nach Stimmung darf ich mich also bescheiden oder posh fühlen! Wenn ich mich bescheiden fühle, erzähle ich gern die Geschichte von unseren direkten Nachbarn, beide um die 70, sie wohnen schon 40 Jahre hier, ebenfalls im Hinterhaus. Als sie einzogen, hing bei ihnen ein Schaltkasten mit kleinen Leuchten, unter denen stand „Tee“, „Bügeln“ und andere eindeutige Aufträge von den Herrschaften aus dem Vorderhaus. Schade, dass sie ihn damals entsorgt haben.

Da in unserem Haus nicht alle Wohnungen geteilt sind, gibt es auch reisengroße, so um die 240 qm. Unser Schlafzimmer ist deren Ankleidezimmer oder Zweitbüro und der vordere Teil der Wohnung hat Fischgrätenparkett und pompösen Stuck und einen Marmoreingang und was weiß ich für Pipapo. In unserem Haus versammeln sich also verschiedene Einkommensklassen. Diejenigen, die schon lange hier wohnen und in einer Hinterhauswohnung, sind die ärmsten. Die frisch zugezogenen mit ganzer Wohnung sind die reichsten.

Da gibt es zum Beispiel die Damen Meyer, Mutter und Tochter. Die Tochter ist Mitte 60, die Mutter 95, sie wohnen hier seit 60 Jahren. Während die betagte Dame geistig durchaus fit ist und im Leben steht („Oh, Ihre Kinderchen haben ja eine neue Karre!“), ist ihre Tochter irgendwann aus der Alltagstauglichkeit herausgefallen. „Ich mach das nicht mehr mit!“ schrie sie neulich und weinte. Ich hatte bei ihr geklingelt und sie freundlich gefragt, ob sie meinen Schlüssel annehmen könne, der Heizungsableser sollte kommen. Und zwar schon am nächsten Tag! Sie weinte, weil die Ankündigung nur im Vorderhaus hing, sie hatte das nicht mitbekommen und sich gar nicht darauf einstellen können. Nachdem sie den Nervenzusammenbruch dann aber doch überstanden und den Mann zu uns hinein gelassen hatte, entfaltete sie ihr großes Talent: Sorgfalt. Ich fand einen von ihr angefertigten Zettel, mit gespitztem Bleistift geschrieben, der eine Art Tabelle enthielt mit den Ableseergebnissen und was sonst noch zu beachten sei laut Heizungsableser. Sie war es auch, die unseren Kindern Geschenke zur Geburt machte, obwohl ich ihr nie erzählt hatte, wann die Kinder zu erwarten waren. Sie ist insgesamt der wahrscheinlich verlässlichste Mensch auf Erden. Ich mag sie, sie nimmt meine Pakete entgegen und wenn man mal eine Kiste mit hoch trägt, kriegt man am nächsten Tag Schokolade. Wenn sie nicht gerade zusammenbricht, ist sie immer freundlich.

In unserem Haus wohnen auch richtig wohlhabende Leute, unter Anderem Wehnerts, mit Vatti mit Wohlstandsbauch, der immerzu arbeitet und Mutti, immer gestresst von all den Terminen, die man als Hausfrau mit Kind eben so hat. Auch sie sind immer nett, überaus freundlich und schenken uns das hochwertige, abgelegte Spielzeug ihrer begabten, musikalischen, sportlichen, beliebten und hübschen Tochter, das wir mit Kusshand entgegen nehmen.

Und dann gibt es in unserem Haus noch echte Engel: Martha und Willi. Das sind die siebzigjährigen Nachbarn mit dem Schaltkasten. Martha ist mein Vorbild in Allem. Sie ist immer gelassen. Sie hat ein Herz so groß wie die Sonne. Sie ist fit und hübsch. Sie wohnt im Winter in Griechenland. Sie ist eigen und unabhängig. Und da sie keine eigenen Kinder bekommen konnte und wohl nicht wusste, wohin mit all dem Herz, hat sie ihr Leben lang als Therapeutin mit Kindern gearbeitet, oft mit behinderten. Nun ist sie in Rente und da wir und unsere Kinder nebendran wohnen, kriegen wir alles ab. Als unser Sohn zwei Wochen alt war, waren wir drüben zum Essen und sie hat sich mit ihm unterhalten, flüsternd, ganz privat. Nie vergesse ich, wie aufmerksam er ihr zugehört hat.

Am liebsten würde ich von allen erzählen, die hier wohnen, aber das führt zu weit. Dieses Haus ist magisch für mich, was ich deswegen gerade feststelle, weil uns ja ein Zimmer fehlt und wir irgendwann umziehen müssen. Ein Drama. Denn es hat doch etwas mit Ottensen zu tun, diesem inzwischen gänzlich durchgentrifzierten Stadtteil, der statt des alten Schwimmbads Esprit beherbergt, dessen Mieten sich nur noch große Ketten oder Erben leisten können (wir also nicht), der längst nicht mehr multikulti ist und in dem sich schon gar keine Künstler mehr niederlassen. Trotz all dem: Bis nach Ottensen weht auch jetzt noch der Wind von der Elbe nach oben. Der Wind aus der großen, weiten Welt, in der es alles gibt. Porschefahrer, Randständige, Frustierte, Glückliche, Kunst, Kommerz und Muscheln.

Wer also weiß, wie man aus einem Zimmer zwei machen kann, darf sich gern melden, dann bleiben wir hier. Bis man uns mit den Füßen zuerst herausträgt, den ganzen Weg durch den Hinterhof, den Schröddelgang und an den Mülltonnen vorbei bis zur Straße.

Wahnsinn


Es folgt ein Einblick in die Fragenwelt einer Vierjährigen, genauer: meiner vierjährigen Tochter. Die Fragen sind im Originalwortlaut wiedergegeben und stammen allesamt aus diesem Jahr. Manche sind weinend, manche einfach nur interessiert vorgetragen worden. Der Übersicht halber und um die unsagbare Vielfalt und Breite vierjähriger Krausköpfe zu verdeutlichen, habe ich die Fragen in Themenblöcken zusammen gefasst. Ungefähr weitere 500 Fragen habe ich weggelassen.

Beim Durchlesen fällt mir hauptsächlich Folgendes auf: 1.: Es ist ein Wunder, dass wir im Laufe unserer geistigen Entwicklung mehrheitlich nicht wahnsinnig werden. 2.: Ich kann höchsten 20% der Fragen sicher beantworten, und das mit 42.

Und nun viel Spaß:

Sterben:

Kann man im Himmel auch basteln und in den Kindergarten gehen?

Aber was denn nun, Mama, ist man im Himmel und kann fliegen, wenn man tot ist oder ist man in der Erde vergraben?

Wie kann man mich denn hören und sehen, wenn ich tot bin, dann bin ich doch ein Engel und der ist doch Luft!

Wohnen in unserem Haus andere Leute, wenn wir alle gestorben sind?

Warum muss man denn einen Fisch tot machen, bevor man ihn isst?

Astronomie und Erdkunde:

Ist die Sonne auch ein Stern?

Ist die Erde ein Planet?

Mama, gibts das eigentlich wirklich, das Ende der Welt?

Mama, kommen die Sterne auch mit uns in den Urlaub?

Ist es bei den Pinguinen und Eisbären im Sommer warm? Werden da auch die Blätter grün und im Herbst bunt und fallen von den Bäumen?

Mathematik:

Wie geht eigentlich Rechnen?

Psychologie und Soziologie:

Kann ein böser Mensch auch jemanden lieb haben?

Hast Du mich auch lieb, wenn wir uns streiten?

Haben echte Prinzessinnen auch mal Hosen an?

Biologie und Naturwissenschaft:

Warum kriegen Menschen und Hunde und Katzen aus dem Bauch ihre Babies und Pinguine und Vögel aus Eiern?

Sind Ameisen so stark wie Pippi Langstrumpf? Können die auch eine Tür tragen?

Wo schlafen Schmetterlinge? Machen die dann auch die Augen zu?

Wenn es böse Bakterien gibt, was machen denn die guten?

Bin ich auch mal eine Mama?

Können Pinguine schwimmen?

Essen Pinguine Salat?

Richtig einfach sind nur die Pinguinfragen, oder? Die Prinzessinnenfrage ging auch. Aber „Wie geht Rechnen?“ Pff, ein weites Feld. Das Ende der Welt? Ich hab gesagt, das gäbe es nicht, fand aber, ich hätte gelogen. Alle Fragen zum Thema Sterben habe ich beantwortet, als gäbe es im Himmel eine wunderbare Parallelwelt mit Kindergarten und Allem, bloß, dass man dort ständig singt und fröhlich ist und nie streitet. Nun ja, ich weiß es halt auch nicht besser. Ehrlich gesagt, sogar bei der Erde und der Sonne kam ich ins Schleudern, habs dann aber intuitiv doch richtig beantwortet. Bei „Wer wird Millionär“ hätte ich aber womöglich einen Joker verballert. Meine liebsten Fragen sind die mit dem Liebhaben, da bin ich total sicher. Natürlich kann ein böser Mensch jemanden lieb haben und natürlich hab ich Dich lieb, meine Süße, auch wenn wir streiten. Die Frage mit den Schmetterlingen wiederum musste ich im Internet recherchieren, mit ihr zusammen. Tatsächlich, die legen sich zum Schlafen unter ein Blatt und ruhen sich dort aus, hätte man so nicht gedacht, oder?

Alles in Allem bin ich einigermaßen erstaunt, wie wenig ich über das Leben weiß. Ich hätte gedacht, gemessen an einer Vierjährigen wäre es mehr. Aber ich muss sagen, es stört mich nicht sonderlich, das ist wahrscheinlich die dann doch einsetzende Altersweisheit.

Und noch was: Ich freue mich wahnsinnig auf all die Fragen, die noch kommen, denn schon drüber nachzudenken macht mich reich!