Ode an das Vergessen


Heute habe ich eine Stunde lang im Fitnesscenter Sport gemacht. Davon habe ich 55 Minuten darüber nachgedacht, ob ich gestern oder vorgestern zuletzt meine Haare gewaschen hatte. Ich wasche sie alle 2 Tage und wollte wissen, ob ich nachher beim Duschen das Shampoo mitnehmen muss. Ich bin wahnsinnig geworden. Um diese Frage zu beantworten, bin ich die letzten drei Tage minutiös durchgegangen, vom Aufwachen bis Insbettgehen. Dabei bin ich noch wahnsinniger geworden, da sich immer mehr Gedächtnislücken auftaten. Je angestrengter ich nachdachte, desto schlimmer wurde es, und das Schlimmste war, dass jede einzelne Minute der letzten drei Tage plötzlich eine unglaubliche Wichtigkeit hatte. Ich meine, es gab überhaupt keinen Unterschied mehr, ob ich über den Tod nachgedacht oder meine beste Freundin in ihrer Ehekrise begleitet oder den Stöpsel aus der Spüle gezogen hatte. Buddhistisch betrachtet ist das, glaube ich, ein erstrebenswerter Zustand. Alles im Hier und Jetzt und mit der Demut für den Augenblick erleben. Obwohl der buddhistischen Lehre durchaus nicht abgeneigt, halte ich dies für Schwachsinn. Das wurde mir in den letzten 5 Minuten meiner Sportstunde deutlich, als ich auf die Idee kam, dass es völlig wurscht ist, wann ich meine Haare zuletzt gewaschen hatte. Entscheidend war ja allein, ob sie fettig waren oder stanken, was beides nicht der Fall war.

Nein, Susanne, Du lebst nicht an Dir selbst vorbei, nur, weil Du vergessen hast, wann Deine letzte Haarwäsche war. Nein, Dein Leben ist deshalb noch kein Fluss automatisierter, gleichsam mechanischer Abläufe, die ohne Dein Wissen geschehen. Nein, Du musst nicht ständig und alles ganz bewusst und mit Freude machen und vor Allem musst Du Dich nicht Dein Leben lang daran erinnern!

Oh welch Gnade, die eine oder andere Belanglosigkeit dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Wie schön, dass ich nicht auch noch die Geburtstage der Männer meiner Freundinnen auswendig weiß, die mir Jahr für Jahr auch nur gratulieren, weil ihre Frauen sie daran erinnern. Was für ein Genuss, nicht alle Minister ihren Ämtern zuordnen zu können, niemand möchte so viele hässliche Brillen und Schlupflider in seinem kostbaren Hirn abspeichern. Juchhe, ich weiß nicht mehr, was ich vorgestern gefrühstückt habe! Es ist ohnehin verdaut und der Biosphäre zurückgegeben! Ja, ich habe den Vornamen meiner Nachbarin vergessen und könnte sie niemandem vorstellen, der bei einem zufälligen Flurtreffen neben mir stünde, Hurra, ich kann sie schließlich einfach fragen, wie sie nochmal heißt! Ja, ja, JA, ich wollte noch etwas Wichtiges aufschreiben und weiß nicht mehr, was, JA, ich habs vergessen und ich werde NICHT daran sterben, im Gegenteil, mein Leben wird spannender, denn ich werde irgendwann eine böse Überraschung erleben und JA, ich werde eine Lösung dafür finden, ganz spontan und sie wird brillant sein, YES, denn in meinem kleinen Hirn ist genug Platz für Spontanlösungen, weil es nicht mit lauter unwichtigem Kram vollgemüllt ist, JA!

Herrlich, die letzten 5 Minuten haben richtig Spaß gemacht.

Schreibe einen Kommentar