Wider den Gartenzaun!


Kennt Ihr das? Man steht in einer Menschenmenge, zum Beispiel bei einem Rockkonzert, vorne glühen die Scheinwerfer und direkt vor einem, fast im Gegenlicht, steht ein Typ, der ein bisschen eklig ist. Nicht doll, aber er hat so dünne Haare im Nacken und schwitzt, so dass sich die Fisseln auf seiner glänzenden Nackenhaut kringeln. Man kann noch seine unmoderne Brille erkennen, die bequemen Halbschuhe und von Zeit zu Zeit berührt er einen aus Versehen mit seiner Schwitzhand. Er ist nicht allein da, sondern mit einem Mädchen, das er plötzlich leidenschaftlich, im Gegenlicht scharf konturiert sichtbar, küsst. Man könnte sofort kotzen. Aber warum bloß? Diese Frage stellte ich mir aus gegebenem Anlass jüngst bei einem Konzert in der Hamburger Fabrik. Dieser Schwitzetyp hatte ja nicht mich geküsst, sondern ein Mädchen, das das offensichtlich genoss, was es allerdings noch schlimmer machte. Ich stellte fest, dass ich mich mehr abgrenzen muss. Menschen, die sich öffentlich küssen, obwohl sie für mich sexuell unattraktiv sind, sollten mich nicht ekeln, sonst muss ich in ein Land ziehen, wo sich das nicht geziemt, ein orientalisches zum Beispiel oder Japan.

So, und dann dachte ich über Abgrenzung nach, die musikalische Darbietung erlaubte dies. Ich bin darin total schlecht. Vor einiger Zeit bin ich in ein Viertel gezogen, das ich lebendig, bunt und persönlich finde und wo ich deshalb wahnsinnig gern wohne. Ich bin nicht arm und keine soziale Randgruppe. Für dieses Viertel gibt es eine Website, die einen tollen Online-Flohmarkt und so eine Art Klönecke beinhaltet. In dieser Klönecke tauschen sich die alteingesessenen Viertelbewohner schimpfend und höchst sozialkritisch über die Neuzugezogenen aus, die das Viertel ruinierten und allesamt kapitalistische Egomanen und -innen mit großen Sonnenbrillen seien. Ich lese das und was passiert? Ich lege mir, voller Wut und Scham, eine Verteidigungsrede zurecht. Warum das alles für mich gar nicht gilt. Dass ich den alternativen Musikladen auch lieber mochte als die Kaffeehauskette und dass ich, weil ich eben Geld übrig habe, dort sogar CD’s gekauft habe. Dass ich für jeden Alki vor Penny erste Hilfe leisten würde. Dass ich kein Auto besitze und keinen Motorroller und – und jetzt wird es ganz schlimm, denn jetzt kommt auch noch Sendungsbewusstsein dazu – dass für wahre Toleranz ein offener Blick notwendig ist, der nicht vom eigenen Unglück eingetrübt ist. Hallo, ich war überhaupt nicht angesprochen! Niemand von denen kennt mich! Ich fühle mich durch deren Aussagen durch meinen BILDSCHIRM und irgendwelche WLAN-Wellen persönlich angegriffen! Wie gesagt, in Abgrenzung bin ich total schlecht.

Deswegen habe ich neulich auch Rotz und Wasser geheult. Ich habe nicht etwa ein paar Tränen verdrückt und ein bisschen geschnieft, nein, ich habe geschluchzt und konnte mich kaum beruhigen, denn das Elend aller Kinder dieser Erde brach über mir zusammen. Anlass war eine Privatsender-Doku-Soap über einen Vater und seine 11 Kinder, welche eine böse, ignorante Mutter hatten und die am Ende in Kinderheime mussten, wo sie ihren Vater vermissten, der sich viel Mühe gegeben hatte, aber überfordert war und deswegen einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Die Kinder weinten ein bisschen und kämpften dann tapfer und aufrecht gegen ihr Schicksal an und ich war weder tapfer noch aufrecht, sondern zog mir deren Elend mal kurz aus dem Fernseher in mein Innerstes, und zwar Elend pro Kind mal 11 zuzüglich Kinderelend insgesamt.

Und jetzt kommts, ich bin ziemlich sicher, dass die meisten, die das hier lesen, das Phänomen erstens auch kennen und zweitens total sympathisch finden. Und deswegen muss ich mir zwecks innerer Klärung öffentlich eine küchenpsychologische Frage stellen. Sie lautet: Will ich mich wirklich mehr abgrenzen? Dann nämlich wäre ich ja emotional ignorant, überhaupt nicht mehr mitfühlend, eingeschlossen in meine eigene popelige Erlebniswelt, gleichsam ohne Verbindung nach außen. Sicher, der Konzertknutscher tangierte mich nicht mehr, ebensowenig jede Meinungsäußerung, die nicht eine direkte Anrede beinhaltet und keine Schmonzette könnte mir mehr etwas anhaben. Aber ich würde eben keinem Alki mehr Erste Hilfe leisten und kein Geld spenden und niemanden mehr trösten und dann tröstet mich auch keiner mehr und dann kann ich auch gleich als Eremitin in eine Höhle gehen!

Nee, das ist nichts, ich finde sogar Gartenzäune doof und da muss ich halt damit leben, dass mir mal Nachbars Hund ins Beet kackt, er meint ja schließlich nicht mich.