Meine högschtpersönliche German Angst

Absichtlich veröffentlichte Falschinformationen machen also Politik, hauptsächlich rechtskonservative, heißt es derzeit. Wenn das stimmt, ist es schlimm, Wahnsinn, aber ich brauche das gar nicht, um mich zu gruseln. Mir ist generell die Angst vor Fremden in unserem Land, vor dem Islam und vor dem Entstehen von Nachteilen durch überbordende Hilfsbereitschaft unheimlich. Die Idee, dass man anderen besser in ihrem eigenen Land helfen solle als ihnen Zuflucht in unserem zu gewähren befremdet mich, denn sie suggeriert eine Entweder-Oder-Entscheidung, dabei ist es in meinen Augen eine Sowohl-Als-Auch-Pflicht. Die Vorstellung, gut definierte Eingangskontrollen sowie hinreichend strenge Abschiebekriterien machten das Leben meiner Kinder sicherer oder gar besser, ist mir so fremd wie, naja, eben fremd. Mein Verständnis für die Haltung, dass der Islam, eine irgendwie bezifferte Anzahl Migranten oder abweichende kulturelle Gepflogenheiten nicht Teil von Deutschland sein sollen, geht gegen Null.

Mein Unbehagen fängt mit der Unklarheit darüber an, ab welchem Abweichungsgrad fremd fremd ist. Mal sehen: Schwedische Weihnachten und skandinavischer Landhausstil sind es schonmal nicht. Thailändisches Essen und Yoga auch nicht. Schwäbischer Dialekt ist für Norddeutsche und Berliner definitiv fremd, aber man hat ihn liebgewonnen. Börek und Dürüm sind auch fremd, schon wegen der vielen Ö‘s und Ü’s, aber darum geht es ja gar nicht, wenn die gut gemacht sind, warum nicht? Kopftuch dagegen ist natürlich total fremd, die Werte, die Werte, wo bleiben da die Rechte der Frau? Hömma, wir hatten Aufklärung! Aladdin ist zauberhaft, das gibt es als Musical, mit echtem fliegenden Teppich – nicht fremd. Aber Ehrenmorde, also bitte, damit haben wir nichts zu tun, total fremd. Bei uns gibt es Mord nur wegen schwerer Kindheit oder vielleicht noch zu vieler Ballerspiele, aber Familienehre, die kann ja wohl da bleiben, wo sie herkommt.

Menschliche Aufgabe

Überhaupt Familie, das Frauenbild des Islam, das wollen wir hier nicht, das ist uns fremd. Das hat mit Unmenschlichkeit nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Unsere Töchter sollen einfach keine Angst haben müssen, als Freiwild gesehen zu werden. Wer aus einem Land kommt, in dem der Islam Hauptreligion ist, hat das aber so gelernt, deshalb steigt die Wahrscheinlichkeit einer Vergewaltigung natürlich, wenn mehr Menschen davon in Deutschland sind, vor allem Männer. Davor muss man sich und seine Kinder doch schützen! Das ist unsere höchst menschliche Aufgabe, wer das nicht sieht ist entweder komplett naiv oder eben unmenschlich, und zwar seinen eigenen Kindern gegenüber!

Diese Verwechslung von Kausalzusammenhang und Korrelation ist so einfach wie wirkungsvoll, und das macht mir Angst. Enorme Angst sogar. Diverse einschlägige Medien bedienen sich dieser Argumentation, dafür brauchen die keine Fake-Nachrichten aus Russland oder sonstwoher. Man muss noch nicht mal AfD-Wähler sein, um das zu empfinden. Und selbst wenn man es ist kann man sehr wohl in der Lage sein, zu differenzieren zwischen vermeintlich verfehlter Politik und genereller Unmenschlichkeit, man kann sogar gleichzeitig die oben skizzierte Haltung haben und für Flüchtlinge spenden. Das macht mir auch Angst.

Voller Menschen, die verstehen

Am allermeisten Angst macht mir daran, dass das so ein Spiegel ist. In meinem direkten Umfeld nämlich passiert überhaupt gar nichts. Meine persönliche Filterblase ist voll von Menschen, die offen sind und für die fremde Einflüsse reizvoll sind. Die verstehen, dass Gewalt ihre Ursache nicht in Religion oder Ethnie hat, sondern in individuellen Erfahrungen. Die die Schwierigkeiten bei der Integration lösen wollen, anstatt sie zu vermeiden. Die fühlen, dass die Welt eins ist und wir alle hier bloß Gäste und die demütig sind, weil wir zufällig in einem der reichsten Länder der Welt leben. Die dankbar sind, dass sie die Möglichkeit hatten, sich einen wie auch immer gearteten Wohlstand zu erarbeiten. Und die wollen, dass es für alle reicht, für die, die hier schon immer waren und die, die dazukommen.

Ich habe keine Freunde, die Nazis sind, und falls AfD-Wähler oder Broder-Sympathisanten darunter sein sollten, halten die mich nicht davon ab, Gutes zu tun. In meinem Umfeld bin ich keiner nennenswerten Gefahr ausgesetzt, ich kann weltoffen, tolerant und multikulti sein, bis ich platze. Die gesellschaftliche Veränderung, die ich spüre und die mir Unbehagen bereitet, fasst mich in meiner Vorstellung davon an, wie es sein sollte, wie es richtig wäre. Ich habe Angst vor einem Umfeld, in dem das, was meine Welt im Innersten zusammenhält, in Gefahr gerät. Denn mir ist die Angst vor Überfremdung fremd. Ich fürchte mich vor ihr und will sie nicht in meiner Umgebung wissen. Am liebsten überhaupt nicht auf der Welt.

Es ist womöglich alles dieselbe Angst. German Angst. Gruselig.

 

 

Bild: Sergey Mironov / Shutterstock

Nur anderthalb Stunden

Mein Besuch im Hamburger Schulmuseum

Ich habe mich unter anderem deshalb selbstständig gemacht, um etwas flexibler zu werden und meine Kinder, wenn nötig, im Schulalltag begleiten zu können. Das ist gelungen und so bin ich vergangene Woche so eine Mitgeh-Mutti gewesen, als die dritte Klasse meiner Tochter ins Hamburger Schulmuseum ging. Ich hatte mir das ausgesucht, weil die Aktion kein Basteln enthielt und weil ich neugierig auf das Museum war. Ich wurde nicht enttäuscht. Diesen Besuch im Schulmuseum werde ich nie wieder vergessen. Niemals habe ich mehr verstanden über Geschichte, und zwar die von vor 130 Jahren, die von vor 70 Jahren und die der letzten Monate.

Die 3a war fröhlich und laut

Schon die Ankündigungs-E-Mail der Klassenlehrerin klang interessant. Darin wurde gebeten, dass alle Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und im Kleid erscheinen sollten und die Jungen mit Seitenscheitel und hellem Oberteil, falls vorhanden im Hemd. Außerdem wurde seit Wochen das Volkslied „Im Frühtau zu Berge“ geübt und meine Tochter erklärte mir schon vorab allerlei über Schulgepflogenheiten zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, man war also vorbereitet. Die Klasse fuhr mit Bus und Bahn durch Hamburg, und wer den öffentlichen Nahverkehr nutzt, kennt vielleicht dieses innere Zusammensacken, wenn eine Schulklasse denselben betritt, jedenfalls mir geht es so. Ich mag die allermeisten Kinder, aber nicht im Rudel morgens um acht. Die 3a war kein bisschen anders als alle anderen, also laut, aufgedreht und fröhlich auf diese anstrengende Art, bei der die Jungs sich so lange Bauch an Bauch anrempeln, bis einer umfällt und die Mädchen in Dreierstapeln übereinander sitzen und gackern. Ganz kurz ist das charmant, danach kommt es auf die individuelle Nervenstärke und das Wertesystem der Mitfahrenden an, ob sie zu den offenen Kopfschüttlern, verhohlenen Augenrollern oder gütigen Mildlächlern gehören.

„Jawohl, Herr Lehrer!“

Diese selbe Klasse stand keine zwei Stunden später stramm in der Schulbank und lachte nicht. Sie antwortete nur, wenn man sie fragte. Drehte ein Kind versehentlich den Kopf nach hinten, entschuldigte es sich anschließend für sein Fehlverhalten. Die Jungs waren zu Knaben geworden, die einen formvollendeten Diener beherrschten, die Mädchen machten einen Knicks, bei dem sich das hintere Bein im Plié abknickt, als Übung für ihren späteren Einsatz als Dienstpersonal. Ihre Antworten lauteten „Jawohl, Herr Lehrer“ oder „Entschuldigung, Herr Lehrer“ und sie sprachen in ganzen Sätzen, falls sie sprechen durften. Sie fragten nichts und schrieben in zackigem Gleichschwung einen Buchstaben auf ihre Schiefertafeln. Ansonsten lagen die Hände gefaltet vor ihnen. Alle Kinder taten das, keines fiel aus dem Rahmen. Nicht mal die eine Freundin meiner Tochter, die keine fünf Minuten stillsitzen kann oder die andere, die sonst unentwegt kichert und redet und auch nicht meine Tochter, bei der seit 3 Jahren im Zeugnis steht, dass sie die Melderegel besser einhalten muss. Die „Knaben“, die sich in der S-Bahn noch umschubsten, starrten geradeaus und hofften, dass man sie nicht weiter bemerkt. Der Junge, der sich zu Beginn geweigert hatte, seine Mütze abzunehmen, stand auf Befehl wie ein Zinnsoldat. Eine ganze Stunde lang funktionierten die Kinder wie Soldaten, alle.

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Für “Eigensinn“ sieben Stockschläge

Was war geschehen? So genau weiß ich es eigentlich auch nicht. Jedenfalls, es lief so ab: Nachdem wir im Schulmuseum angekommen waren empfing uns Herr Maier und führte uns in einen Raum voller alter Bücher. Herr Maier ist eine dieser Personen, die sehr nett und sehr autoritär gleichzeitig sind. Die perfekte Besetzung. Er erzählte allerhand über die Zeit von vor 130 Jahren und erklärte, wie die Regeln damals in der Schule waren. Gleichzeitig leitete er langsam das „Theaterstück“ ein, das später gespielt werden sollte. Damit war die oben umrissene erlebnispraktische Stunde gemeint. Er erklärte schon einmal, dass er dann der „Herr Lehrer“ sein würde. Schon jetzt machte er klar, dass nicht dazwischengeredet wird, keiner ausgelacht und dass man bitte zuhört, wenn er spricht. Im Laufe der nächsten anderthalb Stunden zog er diese Strenge mehr und mehr an.

Nach dem Bücherraum ging es in ein spannendes Zimmer, in dem allerlei Ausstellungsstücke zu sehen waren, alte, hochkopierte Bilder aus der damaligen Zeit, Rohrstöcke, Notizbücher mit Aufzeichnungen über das Fehlverhalten einzelner Kinder und die Art und Anzahl der Schläge dafür. Herr Maier erklärte, dass es vielerlei Fehlverhalten gab, neben Schwatzen und Unaufmerksamkeit zum Beispiel auch, dass man den Lehrer auf der Straße nicht gegrüßt hatte oder „eigensinnig“ war. „Eigensinnig“, sagte er, „also einen eigenen Sinn hat. Selbst denkt. Das war damals nicht gewollt, dafür gab es sieben Schläge auf den Rücken. Schließlich sollten die Jungen alle Soldaten werden und die Mädchen gingen als Dienstboten in den Haushalt.“ Die Kinder waren interessiert, mich schauderte heimlich ein bisschen. Hat sich doch ziemlich viel getan inzwischen, dachte ich erleichtert. Er erzählte noch einiges über Armut und auch die reichen Kinder, die „höheren Töchter und Söhne“, wie ein Schulalltag ablief und was die Kinder erwartete, wenn sie nicht in der Schule waren. Harte Arbeit nämlich, zumindest in der Volksschule und in die gingen ja die meisten. Und immer wieder kündigte er an, dass die Schule ja gleich noch im Theaterstück gespielt wird und erinnerte daran, wie die Kinder dann zu reagieren hätten, manches wurde kurz geübt, Haltung annehmen zum Beispiel.

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Ein dreifaches „Hoch“, bitte

Dann ging es los. Die Kinder zogen um in einen komplett nachempfundenen Klassenraum aus der Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts. Den Mädchen mit ihren Zöpfen wurden Kittelschürzen angezogen, den „Knaben“ Matrosenkragen. Getrennt nach Geschlecht zog die Klasse ein und wurde eine Stunde lang unentwegt angeherrscht. Kaiser Wilhelm wurde vorgestellt als der Herr, dem das Volk zu dienen habe, man solle gefälligst sein Bild anschauen während des Unterrichts. „Im Frühtau zu Berge“ wurde intoniert, die Kinder standen stramm und sangen wie ein gut trainierter Kinderchor, mit ernsten Gesichtern und tongenau. Der „Herr Lehrer“ war einigermaßen zufrieden. Zum Glück, denn bei jedem Fehlerchen während der Schulstunde gab es einen Schlag mit dem Stock gegen die Bank, in der die Kinder saßen, jede Ungenauigkeit wurde mit „Du faules Kind!“ oder „Muss ich alles zweimal sagen, Du eigensinniges Kind?!“ harsch kommentiert und kam danach nicht mehr vor. Nach einer halben Stunde funktionierte alles. Die Rücken der acht- und neunjährigen Kinder waren durchgedrückt, die Hände lagen still, auf Befehl taten alle Kinder alles, was der „Herr Lehrer“ verlangte. Man solle nun dem Kaiser huldigen, ein dreifaches „Hoch“, bitte. Und die Kinder taten das. „Er lebe…“, rief der Lehrer, „HOCH!“ brüllten die Kinder im Gleichklang, „Er lebe…“ „HOCH!“, jedes Mal schnellte der Zeigestock zum Bild an der Wand. Er lebe HOCH! Die Kinder waren froh, denn es klappte gut. Ich dachte, es könnte genauso gut „Sieg Heil!“ sein oder „Allahu akbar“ oder „Vater Schlumpf“, es war völlig egal.

„Das hat Spaß gemacht“

Man konnte in den Gesichtern der Kinder sehen, dass sie diese Schulstunde unterschiedlich empfanden. Manche als Spiel, andere als selbstverständlichen Teil des Museumsbesuchs, wieder andere waren angestrengt, ein paar wirkten leicht gestresst. Aber sobald der „Herr Lehrer“ seinen Gehrock auszog und wieder Herr Maier wurde (Er tat das ein einziges Mal während der Stunde und erzählte, warum Kaiser Wilhelm damals so wichtig war und was das mit Linkshändern und linker Politik zu tun hatte und wie gut das sei, dass das heute nicht mehr so ist) entspannten sich alle Kinder. Als die Stunde zu Ende war lachten sie wie gewohnt und lärmten über die Hamburger Reeperbahn und gackerten und schubsten sich durch den Bus nach Haus. „Das hat Spaß gemacht“ sagte eines der Mädchen, das eine Stunde lang starr und ernst nach vorn geschaut hatte und das sonst unter „Spaß“ ganz etwas anderes verstand, bauchfrei zu Bibi und Tina tanzen oder sowas.

Nun bin ich nicht naiv und habe „Die Welle“ gelesen und „Das Experiment“ geschaut und dieses und jenes zu psychologischer Manipulation gelesen und dennoch. Es dauert nur anderthalb Stunden, um 20 selbstbewusste, zu Individualisten erzogene, fröhliche und neugierige Kinder zu willfährigen Soldaten zu machen. Anderthalb Stunden.

Übrigens, das Schulmuseum ist toll und ich finde die Erfahrung, die die Kinder gemacht haben, in dieser Dosierung prima. Aber puh. Nur anderthalb Stunden.

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Achtzig

Mein Vater ist kürzlich 80 geworden und ich war auf seiner Geburtstagsfeier. Ein Restaurant am Stadtrand, rund 25 Gäste, Freunde und Familie. Wow, 80. Das dachte ich schon vorher, als ich unter großen Anstrengungen und mittelschweren Familienkonflikten die Einladung in Word verfasste und auf marmoriertem Papier ausdruckte. Hinterher auch. Es hat mich seltsam angerührt und spontan schrieb ich im Anschluss folgenden Facebookeintrag:

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Die Feier hallt noch nach. Altersstarrsinn. Der kommt ja heute nicht mehr in Form eines Greises daher, der mit seinem Krückstock wütend auf den Boden donnert, um dann den Radetzkymarsch anzustimmen. Bei den heute Achtzigjährigen ist er subtiler. Haltungen und Meinungen sind zementiert, aber kritisch. „Sie ist einfach nicht einsichtig“ sagt die Mittsiebzigerin über ihre längst erwachsene Tochter, um seltsam reflektiert hinterherzuschieben „Das liegt natürlich auch an mir. Ich habe sicher viel falsch gemacht, aber ich konnte es damals nicht besser.“ Eine andere der Damen ist erleichtert, dass der in Liebesdingen unbegabte Sohn getrennt ist. „Endlich. Ich wusste das, sie hätten schon nicht mehr heiraten sollen. Aber ich habe mich zurückgehalten, damals, bei der Hochzeit.“ Als wäre das eine Leistung und als wäre sie aus Liebe erbracht. Kaum ein Kind, das nicht gravierende „Fehler“ macht, die man nun an den Enkeln sehen kann, man hatte es geahnt. Homo-Ehe, Eigenheim, Mütter im Beruf, kein gesellschaftliches Thema, zu dem nicht vollkommen unverrückbares Wissen den Raum vollstellt, in dem wir essen. Mehr als nur eine äußerst narzisstische Bemerkung fällt, getarnt als Sorge, Fürsorge gar. Und doch.

Alle Gründe sind noch da

Gleichzeitig brechen sich wohlwollende Gefühle ungehemmt bahn und behalten den ganzen Nachmittag über die Oberhand. Ungefähr die Hälfte der Gäste war zwischenzeitlich untereinander oder mit meinen Eltern zerstritten, zumindest ohne Kontakt. Aus allerlei Gründen, zu kapitalistisch die einen, zu unangepasst die anderen, irgendjemand war unwissentlich auf irgendeine Tretmine getreten, zack, Funkstille. Es gab halt so Gründe. Alle Gründe sind auch jetzt noch da. Aber man ist sich plötzlich wieder gewogen. Je mehr Konturen das Lebensende annimmt, desto wichtiger scheint Verbindung zu sein. Vergebung vielleicht, die Prioritäten verschieben sich jedenfalls. „Jeder nach seiner Fasson.“ „So sind sie, die Menschen.“ „Das muss ja jeder für sich entscheiden.“ Auch solche Sätze höre ich mehrfach und sie sind so gemeint. Ich höre liebevolle Zuwendungen, kleine Vorträge, umgeschriebene Seemannslieder, den ganzen Quatsch, der auf so Feiern aufgeführt wird und finde sie alle herzig und ehrlich. Es scheint ein kollektives Bewusstsein darüber zu geben, dass Familie und Freunde das sind, was am Ende bleibt, immer wieder wird das gesagt, gesungen oder spürbar gedacht. Man bewundert sich für Talente, betont, wie sehr man sich über den anderen freut, andauernd, das gab es auf früheren Festen nicht, jedenfalls nicht so explizit.

„Schlimm“

Vielleicht ist das immer so, vielleicht ist das ein natürlicher Prozess, vielleicht gibt es ihn seit es Menschen gibt oder jedenfalls, seit sie 80 werden. Vielleicht ist es aber in dieser Generation besonders ausgeprägt, beides, das Abgrenzen, Abwerten der anderen, der deutliche Narzissmus und das Umschlagen in ein wohlwollendes Miteinander. Die Vergangenheit war auch auf früheren Feierlichkeiten immer mal Thema, aber nie so direkt, wie auf diesem achtzigsten Geburtstag. „Das Krankenhaus, in dem ich geboren werden sollte, wurde ja genau in der Nacht ausgebombt. Man holte die verkohlten Leichen heraus, also ich wäre sicherlich nicht hier, hätte meine Mutter es ins Krankenaus geschafft.“ Die anwesenden Enkel gucken groß und interessiert. So ein Satz steht da einfach mit am Tisch, zwischen Kroketten und Rotkohl. „Ich hatte ja wegen des Krieges schulisch einiges verpasst und ging also zur Abendschule, um Abitur nachzumachen, das hat dann auch alles geklappt.“ Das sagt mein Vater und ich weiß, wie viele Kilometer er mit einem selbst gebauten Fahrrad damals durch Hamburg fuhr, abends und nachts, nach der Arbeit. Er empfand das als Glück. Wie Hitler in seinem Geburtsjahr die Olympischen Spiele eröffnete, „schlimm“, und Mussolini und Hitler paktierten, all das kommt zur Sprache, vorsichtig, aber konkret, benannt und mit leicht spürbarem Schaudern noch einmal erzählt. Ebenso wie die Adenauerzeit, man entschuldigt sich fast für die Glorifizierung der Amerikaner, aber „so war das eben damals“.

Funken

Es sind immer nur kleine Funken, diese tapferen Rückblicke. Eigentlich soll es ja um etwas ganz anderes gehen und geht es auch. Vorsichtiger, demütiger Optimismus, das ist das, was vorherrscht. Alle sind dankbar, dass sie hier sind, das merkt man. Alle Gäste haben Spaß miteinander, nur ein bisschen leiser der Refrain, ein bisschen sichtbarer die Krankheiten und Alterserscheinungen. Ich muss lachen, als ich leise gegen mein Glas pinge, um Gehör für mein Gedicht zu finden. „Damit komm‘ ich wohl auf einem Achtzigsten nicht mehr durch“, sage ich zu meiner Cousine und dengele dann sehr laut mit dem Esslöffel an die Wasserflasche, erst dann wird es still. Mein Gedicht ist auch gefühlvoller geraten, als die letzten, die ich vortrug. Ich möchte meinem Vater sehr deutlich sagen, wie dankbar ich ihm bin und dass ich mich freue, dass es ihn gibt. Auch ich bin viel wohlwollender. Diese nervigen Schrullen der komischen Freunde meiner Eltern, die haben mich früher wahnsinnig gemacht. Mit ebenso so starrer Abneigung musste ich ständig feststellen, wie bekloppt die meisten sind, wie starr, oh, huch!

Vielleicht war ja gar nichts anders an diesem Nachmittag, nur ich. Wow, 80.

 

Unerhört

Das ist ein Gastbeitrag meiner achtjährigen Tochter Ella, die großer Horst Evers-Fan ist. Am Strand im Urlaub hat sie nun selbst eine „Horst Evers-Geschichte“ geschrieben. Weil ich die so lustig fand, habe ich dafür sogar meinen brachliegenden Blog reaktiviert.

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Stehe bei Lidl. Als ich noch zu Hause war, hatte ich eine brillante Idee. Ich hab mir überlegt, die Pfandflaschen-Strichcodes zu kopieren. Werfe gerade irgendwelche Bierflaschen mit aufgeklebten Strichcodes in den Automaten. Höre eine Sirene. Sie wird immer lauter. Es ist ganz ruhig im Laden. Alle Leute starren mich an. Fühle mich unwohl. Die Sirene ist jetzt im übrigen aus. Vor der Tür bleibt ein Polizeiauto stehen. Es ist immer noch still im Laden. Plötzlich stürmen zwei Polizisten in den Laden. Finde das un-er-hört! Ich finde es unerhört, weil es gerade mal still im Laden ist und plötzlich so eine Lautstärke die Stille unterbricht.

Der eine Polizist sagt mit lauter Stimme: „Sofort verhaften!“ Der andere starrt mich misstrauisch an. Dann geht der Polizist mit der lauten Stimme auf mich zu und fasst mir die Hand und sagt: „Sie kommen jetzt erstmal mit.“

Etwas später

Ich sitze gerade in einem Kofferraum eines Polizeiautos. Es huckelt zwar sehr doll, bin aber trotzdem ein bisschen stolz. Das einige, was mich wundert ist, dass ich Handschellen anhabe. Die hat mir der Polizist, der mich angestarrt hat, mit den Worten „Geben Sie mir Ihre Hände“ angeschnallt. Oh. Wir sind an der Polizeiwache angekommen.

Danach

Stehe in der Polizeiwache. Ein anderer Polizist, der nicht mit dem Auto gefahren ist, sagt: „Naja. Das ist uns schon mal passiert. Deshalb müssen Sie nur 60 Euro bezahlen.“

Ein Rat von Horst Evers

Ich rate Euch, das mit den Strichcodes mal lieber nicht zu machen. Dann werdet Ihr nämlich nicht reich, sondern genau das Gegenteil. Ihr verliert Geld.

Ende

2015, Here I come

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Wie ich dieses Jahr meine Selbstständigkeit startete

Wie es mir Spaß machte

Wie es langsam losging mit ersten Kunden und Projekten

Wie ich eine tolle Beratungsfirma fand, bei der ich als Freie unterkam

Wie ich eigene Kunden akquirierte

Wie ich zudem freie Beraterin einer großen Firma wurde

Wie alles immer besser lief

Wie alles immer mehr Spaß machte

Wie ich immer mehr lernte

Wie meine Tochter in die Schule kam und in drei Wochen ein ganzes Jahr reifte

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Wie mein kleiner Sohn sich die Schulter brach und genas

Wie das Leben immer mehr wurde und schneller und erfolgreicher

Wie ich das toll fand

Wie ich mit 180 auf der linken Spur fuhr und wie ich dabei sang vor Freude

Wie ich merkte, dass ich gar nicht genug getankt hatte

Wie ich wieder etwas langsamer wurde

Wie mein Sohn eine Mauer herab stürzte

Auf eine Steintreppe

Und sein Schutzengel  gerade noch rechtzeitig zur Stelle war

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Wie ich mehr Zeit für meine Familie haben wollte

Wie ich mehr Zeit für mich haben wollte

Wie mir das ganz langsam gelang

Wie ich voller Freude war über das Erreichte

Wie ich dauernd Rückenschmerzen hatte

Wie plötzlich mein Fuß an einer Stelle taub war

Wie ich mich darum kümmerte und es trotzdem  immer schlimmer wurde

Wie ich mit einem gelähmten Fuß ins Krankenhaus kam

Wie sie mich gleich da behielten

Wie sie mir sagten, es sei die Bandscheibe

Wie die aber ganz gesund war und ich tagelang untersucht wurde

Wie ich auf der Neurologischen landete

Mit einem nun fast vollständig gelähmten Bein

Wie in meinem Zimmer schon eine Frau in meinem Alter lag

Wie die sich ärgerte, dass jemand mit rein kam

Wie diese Frau sehr krank war

Wie sie Spastiken  hatte, die sie unendlich erschöpften

Wie sie weinte, weil sie plötzlich nicht mal mehr den Telefonhörer halten konnte

Wie ich froh war, dass ich ihn halten durfte und nicht hilflos sein musste

Wie die Schwestern und Pfleger zu wenig Zeit hatten

Wie die Frau nur in Notfällen nach ihnen klingelte

Wie mein anderes Bein plötzlich auch keine Reflexe mehr zeigte

Und man mir sagte, dass auch ich vielleicht sehr krank bin

Wie die Welt implodierte

In ein Tränenmeer fiel

Und weg schwamm

Wie es ganz still wurde in mir

Wie die Ungewissheit so groß wurde, wie das Universum

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Wie die Spastiken die Beine der Frau verknoteten und niemand kam

Wie wir sie zusammen auseinander bekamen und uns gemeinsam  freuten

Wie sie auf Toilette musste und niemand rechtzeitig half

Wie sie deshalb in die Hose machte

Wie ich trotz allem froh war, dass sie da war in diesen Tagen

Wie mir ihre Eltern Kopfhörer mitbrachten, weil ich keine hatte

„Als Weihnachtsgeschenk“

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Wie meine Kinder fröhlich über den Krankenhausflur kegelten

Wie meine Tochter mir erzählte, dass sie abends nicht einschlafen kann, weil sie an mich denkt

Wie der Nikolaus zu den Kindern kam und mir etwas mitbrachte, weil sie auf einen Schuh

Auch für mich bestanden hatten

Wie mein Bein von Tag zu Tag schlechter wurde und ich nicht mehr laufen konnte

Wie ich mit Verdrängen und Aushalten beschäftigt war

Den ganzen Tag

Wie die Frau meine Freundin wurde und ich ihre

Wie wir gemeinsam lästerten über die, die stumpf waren

Und die ehrten, die menschlich geblieben waren in all dem

Wie sie einen Tag beinahe ohnmächtig aus ihrem Rollstuhl gefallen wäre

Und einen anderen fast erstickte

Wie ich die schönsten Liebesbriefe von meiner Tochter erhielt

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Wie mein Sohn mir ein Bild malte und es lieber wieder mitnehmen wollte

Damit das Bild zu Hause auf Mama warten sollte

Wie der Mann mir einen Weihnachtsstern und Unterhosen und eine Umarmung mitbrachte

Wie meine Freundin entlassen wurde

Und die Nachtschwester mir erzählte, wie anstrengend sie war

Und ich sagte „Natürlich war sie das. Es ging ihr schlecht.“

Wie ich tagelang auf die Untersuchungsergebnisse wartete

Wie zu Hause alles weiter lief, weil Freunde und Familie da waren und halfen

Alle

Wie ich am Ende bloß eine harmlose Borreliose hatte

Und alles gut wurde.

 

Wie ich alles, was ich nun weiß, auch vorher wusste

Das mit der Zeit und dem Wesentlichen

Wie ich jeden Kalenderspruch kenne, der dazu geschrieben wurde und noch geschrieben wird

Wie jetzt trotzdem alles anders ist, für immer.

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(Foto Universum: Bernhard Mayr / Pixelio)

Bittedanke und Tschüss.

Noch bei Pippi Langstrumpf aus den späten Sechzigern macht Annika einen Knicks, wenn sie einen Erwachsenen begrüßt und Tommi einen kleinen Diener. Unvorstellbar heute, ein Glück. So manche Gepflogenheit ist ausgerottet. Meine Tochter wird niemals einen Knicks machen müssen, höchstens wenn sie mal eine Königin trifft, dann meinetwegen. Und am Tisch wird bei uns geredet, gelacht und gesungen, egal wie alt man ist. Und auch ein Ellenbogen hat da einmal Platz, um einen müden Kopf in die Hand zu stützen. Manche Regeln und Manieren passen einfach nicht in unsere Familie und wie ich finde, auch nicht mehr in unsere Zeit. Und so war niemand erstaunter als ich selbst, als ich merkte, wie wichtig es mir ist, dass unsere Kinder laut und deutlich „Bitte“, „Danke“, „Hallo“, „Tschüss“, „Entschuldigung“ und „Ich möchte bitte“ sagen können.  Dieses „Wie heißt das Zauberwort?“ geht mir eigentlich eher auf den Keks, ebenso wie das Unterbrechen der kindlichen Freude über ein Geschenk mit dem Elternsatz „Hast Du Dich schon bedankt?“.  Und trotzdem.

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Ich glaube, dass Menschen, die das können, es leichter haben. Aber woran liegt das? Die wenigsten Gepflogenheiten sind aus dem Nichts entstanden, sie haben einen sinnhaften Ursprung. Ist die gesellschaftliche Grundlage für den Ursprung nicht mehr existent, muss die Gepflogenheit weg, so viel ist klar. Aber dieses Bittedanke, Hallotschüss, Entschuldigung und Ichmöchtebitte, das hat überlebt, nebst Ursprung. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wofür diese Worte eigentlich stehen und bin zu folgenden Ergebnissen gekommen:

„Danke“ sagen. Wer das kann, kann etwas annehmen. Er hat gemerkt, dass jemand ihm etwas Gutes tun wollte und kann das wertschätzen. Das heißt nicht, dass er die Sache an sich wertschätzt. Der hässliche Strickpulli von Oma darf ein hässlicher Strickpulli bleiben. Aber Oma hat ihn liebevoll ausgesucht in der Absicht, dem Kind eine Freude zu machen und diese Absicht nimmt das Kind an. Dafür bedankt es sich. Mit Glück lernt es sogar, sich darüber zu freuen. Wie reich das Leben sein kann, wenn man das kann!

Wer etwas hergibt, das er nicht mehr braucht oder das er ausgesucht hat, um jemanden zu beschenken, sagt „Bitte“. Was für ein schönes Gefühl. „Bitte“ sagen heißt, ich gebe Dir etwas, weil ich das richtig finde. Sogar, wenn ich es ein klein bisschen doch lieber selbst behalten hätte, finde ich es richtig, Dir das zu geben. Nimm es bitte an. Wer das kann, kann geben und wie wir alle wissen, nimmt es sich dann auch viel leichter, da ist dann irgendwie mehr Platz.

Einen Raum betreten und die Anwesenden begrüßen, auch so eine Kunst. Manch Erwachsener kann das nicht. Man bemerkt ihn vielleicht erst, wenn er ausversehen niest oder einem auf den Fuß tritt oder etwas von einem will. Wie in so Beziehungen. Unbemerkt reinschleichen und sich dann unerwartet bemerkbar machen, weil man etwas braucht, das ist ja so ziemlich der größte Beziehungskiller. Also, erstmal „Hallo“ sagen, das wusste schon Rüdiger Hoffmann (dem das allerdings ansonsten nicht viel genützt hat, aber das hat andere Gründe). Mit Glück kommt ein Signal zurück: Schön, dass Du da bist.

Und dann redet man mit der Person, die hinter einem steht, dreht sich um und da steht gar keiner mehr. Und man weiß nicht seit wann und warum. Hat sie Schluss gemacht? Musste sie mal? Ist sie gestorben oder steht sie hinter der Tür? Man weiß es nicht. Sie hat sich gar nicht verabschiedet. Zumindest „Tschüss“ sagen wäre schon nett gewesen.  Wer „Tschüss“ sagen kann, kann sich lösen, etwas beenden und zwar so, dass der andere weiß, woran er ist. Ich persönlich finde Menschen ja extrem anstrengend, die das nicht können und ich wünsche meinen Kindern nicht, dass sie dazugehören.

Tja, und dann ist da dieses weites Feld der Entschuldigung. Bücher wurden darüber geschrieben, umfangreiche Therapien ranken sich um das Thema Verzeihen, Schuld und Sühne spielen eine tragende Rolle, Du meine Güte. Mal im Kleinen gedacht heißt „Entschuldigung“ sagen aber nichts anderes, als sich Fehler zuzugestehen. Ich habe etwas falsch gemacht, bitte entschuldige das. Wer das flüssig über die Lippen bringt braucht das nicht tage-, monate-, jahre- oder ein Leben lang mit sich herumzuschleppen. Auch das finde ich äußerst erstrebenswert. Ich wünsche meinen Kindern, dass ihnen das möglichst oft gelingt (vor Allem öfter als mir).

So, und dann muss man ja schließlich noch sehen, wo man bleibt. Dahinter steckt etwas sehr Wertvolles: Für sich sorgen können. „Sehen, wo man bleibt“ impliziert allerdings schon, dass das nicht gelungen ist. Wer sehen muss, wo er bleibt fühlt sich meist schon übergangen und muss nun endlich einmal „Hier“ schreien. Wer aber laut, deutlich und freundlich „Ich möchte bitte“ sagen kann, der muss das nicht. Ein fünfjähriges Kind, das woanders zu Besuch ist, wird zu trinken kriegen, wenn es durstig ist. Und ein Erwachsener, dem das in Fleisch und Blut übergegangen ist, wird Raum für seinen Gesprächsbedarf, ein angemessenes Gehalt, ein ausgiebiges Wannenbad oder Butter auf dem Brot kriegen, zumindest meistens. Das Leben kann dann so einfach sein.

Und wenn ich nun also die uncoole Mutti bin, die Ihre Kinder zum Aufsagen dieser Formeln drängt, dann weiß ich jedenfalls, warum. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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Tschüss.

 

(Bildquellen: 1: Helen Souza, 2: Sylwia Schreck, beide pixelio.de)

Respektismus

So, die #Aufschrei-Debatte dauert jetzt ja schon ein paar Wochen und hat viele erreicht und einige bewegt. Die einen noch weiter in die Ecke hinein, in der sie vorher schon waren, die anderen ein Stück aus ihr heraus, mich zum Beispiel. Und genau so gehört sich das ja auch für die kleinen evolutionären Schritte der Menschheit. Zum Beispiel galt bei den Primaten so lange ein dichtes, glänzendes Fell als schick und attraktiv, bis sich der aufrechte Gang entwickelt hatte. Als die ersten dann losliefen und lange Strecken durch die Savanne zurück legten, entpuppte sich das Fell als hinderlich, da man damit nicht schwitzen konnte. Das ging ja auch nicht von heut auf morgen und viele Damen dieser Zeit werden das glänzende Fell noch lange total schön gefunden und die Herren werden sich furchtbar nackt gefühlt haben, damals, ganz am Anfang. Das gehört natürlich gar nicht hierher, aber ich hab das neulich im Fernsehen gesehen und es fiel mir gerade ein.

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Also, die Debatte. Was mich daran interessiert, ist die Schwelle. Es ist ja so, dass eine Debatte, die auf -ismus endet, gemeinhin sehr lange in einer sehr großen, breiigen Grauzone verharrt. In dieser Zone, in der jeder und jede ein Plätzchen für die eigene Haltung findet. Das Mädel im knappen Röckchen, dem der Bauarbeiter hinterher pfeift, ist ein Beispiel. Man kann kontrovers besprechen, ob das etwas mit -ismus zu tun hat, denn natürlich hat das Mädel kein knappes Röckchen allein zu Hause vor dem PC an, weils so gemütlich ist. Wenn er ihr echte Avancen macht, wirds schon etwas wackeliger. Wenn er ihr an den Po fasst, wird eine große Masse aufschreien und das verurteilen und wenn er sie ohne ihr ausdrückliches Einverständnis an die Wand drückt und küsst, ist es strafbar.

 

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Ein anderes Beispiel ist der viel zitierte Negerkuss. Man kann darüber streiten, ob dieses Wort etwas mit -ismus zu tun hat, denn es wird von den meisten völlig losgelöst von seiner ursprünglichen Wortbedeutung verwendet. Allerdings, sobald ein Farbiger daneben steht, wird der „Negerkuss“ vermutlich vielen Verfechtern dieses Begriffes eben doch im Halse stecken bleiben und schnell noch ersetzt werden. Selbstverständlich wird diese Person aus „Negerkuss“ auch nicht ableiten, dass man von Farbigen als Negern spricht. Tut sie es doch und paart es mit einer gesellschaftlichen Benachteiligung, wird es strafbar.

 

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Es gibt sie also, diese Schwelle, an der sich fast alle einig sind, dass hier etwas falsch läuft. Nur in den Grauzonen, die vor diesen allgemein anerkannten Schwellen liegen, wird gekämpft. Deswegen, weil alle sich falsch verstanden fühlen. Das wiederum liegt daran, dass der Absender sich darauf zurückzieht, wie es gemeint war: überhaupt nicht herabwürdigend nämlich. Und da steckt der Teufel. Indem wir unser Verhalten ausschließlich an dem messen, wie es gemeint ist, handeln wir bereits herabwürdigend. In den allermeisten Fällen wahrscheinlich völlig harm- und wirkungslos, aber eben nicht immer. Erst, wenn wir mit in Betracht ziehen, wie das, was wir sagen und tun, beim anderen ankommt, behandeln wir ihn mit Respekt. Immer. In unseren Beziehungen, im Arbeitsumfeld, im Kindergarten, in der Schule und eben auch im Rahmen von gesellschaftlichen -ismusdebatten.

Allerdings: Zu einem respektvollen Miteinander gehört auch, unsere eigenen Grenzen zu äußern, ohne ebenfalls herabwürdigend zu werden. Eine hohe Kunst, ich persönlich beherrsche sie so gut wie Skifahren (Ich komme blaue Pisten mit Mühe runter und bin schnell erschöpft). Wer den „Negerkuss“-Verwender als Nazi bezeichnet, wird nicht viel mehr bewirken, als einen noch tieferen Graben der Respektlosigkeit. Wer den pfeifenden Bauarbeiter als Vergewaltiger beschimpft, ebenso. Wer aber in aller Deutlichkeit mitteilt, dass eine Schwelle überschritten ist, hat immer Recht.

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(Bildquellen: 1: Dieter Schütz, 2: Michael Groß, 3 Tomizak, 4: Rainer Sturm,  Alle: pixelio.de)

Pickel

(Über die Pubertät des Konzepts „Working Mom“)


Wir wissen ja alle, wie es geht. Das mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, meine ich. Für uns Frauen gibt es tausend Vorbilder, tausend Möglichkeiten, tausend Fachbücher, tausend eigene Ideen und eine Million Kommentare dazu. Allein, hier und da gibt es klitzekleine Unreinheiten im schönen, gepflegten Antlitz des Konzepts „Working Mom“. Bisweilen auch Akne. Wie aus heiterem Himmel schreit man plötzlich sein Kind an, weil es seine Stiefel extra langsam zumacht, diese kleine Kröte, die einen nur ärgern will und EXTRA nicht hört, grad wo man es eilig hat, du gemeines Aas! Huch, war wohl ein bisschen heftig. Besonders wir Frauen gehen dann hart mit uns ins Gericht. Wir haben unser Kind angeschrieen! Wegen sowas! Etwas milder sind wir mit uns, wenn wir unseren Mann anschreien, weil er schon wieder den Geschirrspüler so dermaßen bekloppt eingeräumt hat, dass man alles nochmal von vorne machen muss, das kann doch nicht so schwer sein, Mann, TELLER zu den TELLERN und man kann das Ding auch ganz aufmachen und hinten was reinstellen, verdammt nochmal! Huch, war wohl ein bisschen heftig. Und plötzlich sind wir sauer auf die kinderlose Kollegin, die wegen eines harmlosen Schnupfens zwei Tage zu Hause geblieben ist, ZWEI TAGE, wegen SCHNUPFEN, von Schnupfen reden wir nichtmal und jetzt sitzen wir da und ausgerechnet heute macht der Kindergarten früher zu, als hätte sie’s geahnt, die faule Socke! Huch, war wohl ein bisschen heftig.

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Wo kommen die her, diese Pickel in unserem sauber ausgeklügelten Konstrukt, das uns glückliche Kinder, tolle Väter und totale Erfüllung versprochen hat? Es ist noch in der Pubertät und das bedeutet unter Anderem, dass ausgerechnet wir aufgeklärten Frauen, die alles reflektieren, verstehen, einordnen und relativieren können, unverhofft an Grenzen kommen. Und dann werden wir bisweilen so, wie wir nie sein wollten. Was führt dazu, dass das Leben hinter der schönen und lustigen Facebook-Familien-Heile-Welt-Fassade hier und da ganz schön aus dem Ruder läuft? Das:

1.: Unser Anspruch

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Viel berichtet, aber hier unbedingt noch einmal an erster Stelle zu nennen. Wir verlangen von uns Frauen, beruflich dort einzusteigen, wo wir vor den Kindern aufgehört haben und dann Karriere zu machen. Oder mit unserer Selbstständigkeit den ganz großen Wurf zu landen. Mit all der Verlässlichkeit und Kraft, die das erfordert, so, dass keiner merkt, dass wir nächtelang nicht geschlafen haben oder vor schlechtem Gewissen fast platzen, weil das Fieberkind seit 3 Tagen bei Oma wohnt. Im Kindergarten wollen wir dann erfüllt vom Tag voller Vorfreude ankommen und die Launen unserer Kinder mit einem milden Lächeln wegstecken. Dann flugs nach Hause, auf dem Rückweg noch schnell im Supermarkt vorbeischauen (ohne Peinlichkeiten und ja, es ist uns peinlich, all das, was Kleinkinder im Supermarkt so anstellen!) und zu Hause eben noch ne Wäsche rein, und dann wird gebastelt. Oder gesungen. Oder sich kreativ verkleidet. Auf dem Bio-Abendbrotstisch steht später pünktlich die ausgewogene Mahlzeit, zu der der Mann, falls er es rechtzeitig schafft, herzlich eingeladen ist.

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Nach dem einstündigen Insbettgehritual inklusive Kuscheln treffen wir uns dann mit unserem Mann bei einem guten Rotwein (Doppelverdiener!) auf dem Sofa. O.K., nur ne DVD statt Kino, aber man muss halt Opfer bringen. Wir wollen ja auch dem Mann noch die neuen Dessous zeigen, die wir im Internet gekauft haben, huiuiui, kicher, Kerze an und ab gehts! Und das jeden Tag, außer am Wochenende, da gehen wir mit der Freundin Kaffee trinken und der Mann „macht die Kinder“. Total gern natürlich. Ach, ich hab das Sportprogramm vergessen, hier gehen die Ansprüche durchaus auseinander. Manche verlangt von sich nur einmal die Woche Fitnesscenter (Doppelverdiener!), andere die tägliche Joggingstunde, sobald der Beckenboden wieder hält. Wer denkt an Omas Geburtstag? Kinder geimpft? Vorsorgeuntersuchungen noch im Plan? Passen noch alle Schuhe? Eigene Frisur noch zeitgemäß? Milch noch gut? Trotzphasenerziehungsratgeber-Workshop besucht? Ostereier ausgepustet? Adventskranz geklöppelt? Ladies, wir sind wahnsinnig! Niemand kann das auf Dauer schaffen, und wenn doch, dann nur mit entsprechenden Rahmenbedingungen, und damit kommen wir zum nächsten Punkt:

2.: Das Netzwerk

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Um auch nur der Hälfte unseres Anspruchs gerecht zu werden, brauchen wir einen Verbund. Ob der nun erkauft ist durch zusätzliches Betreuungspersonal oder durch Familie und Freunde von Natur aus da ist, spielt für das Gelingen keine Rolle. Wichtig ist, dass er groß genug und von Vertrauen geprägt ist. In den wenigsten Fällen ist das Netzwerk aber groß genug. Wenn es gut läuft gibt es eine Hauptoma und eine Zweitoma und eine Freundin oder Babysitterin neben dem Kindergarten. Oft gibt es das aber nicht, und dann steht man da mit ausgefallenem Plan A, wenn das Kind krank wird (oder man selbst!) und Plan B geht schon nicht mehr, weil man die Schwester nicht schon wieder fragen kann, die war letztes mal schon den Tränen nahe, kann aber nicht Nein sagen. Ja, wir Frauen können ausgezeichnet nicht fragen wollen und nicht nein sagen können. Standby-Babysitter sind teuer und es dauert Jahre, bis man genug Mütter kennt und die Kinder groß genug sind, damit man sie für ein paar Überstunden bei Freunden unterbringen kann. Aus irgendeinem Grund funktioniert die Vernetzung im Kindergarten, in dem fast alle Mütter das gleiche Problem haben, noch nicht optimal. Die geteilte Ersatzomi aus dem Viertel? Die Ausnahme. Zuverlässige Reihumbetreuung? Fehlanzeige. Da ist noch Luft nach oben. Ich glaube, das Problem liegt darin, dass sich keine traut, zu fragen. Es ist nicht gerade en vogue, Engpässe in der Familienorganisation offensiv anzusprechen, was sehr schade ist. Ist es aufgefallen? Bisher war die Rede hier hauptsächlich von den Müttern. Aus folgendem Grund:

3.  Die Rolle der Väter

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Auch hierüber ist hinlänglich analysiert, berichtet, und diskutiert worden (Der neue Vater, witzige Windelbücher von Vätern und so weiter). Was aber noch längst nicht ausreichend beleuchtet ist, ist der Vater mit berufstätiger Frau im eigenen beruflichen Umfeld. Über den wird überhaupt nichts geschrieben. Er ist aber eine tragende Säule im Familienmodell mit „Working Mom“. Jede berufstätige Frau mit Kind kennt den Moment: die wichtige Besprechung hat gerade erst angefangen, da kommt der Anruf: Kind krank. (Es wird natürlich die Mutter angerufen). Und los gehts: Cool bleiben, sich elegant aus der Besprechung stehlen, die KiTa vertrösten („Ich komm so schnell ich kann, ich muss nur noch schnell ein paar Kleinigkeiten regeln“), die Schwiegermutter anrufen, die kann nicht, selber krank, zeitgleich die Kollegin ins Thema einarbeiten, drei E-Mails schreiben, zwei weitere Besprechungen absagen, eine davon oberwichtig, das zweite Kind für den Nachmittag parken, zur Kita hetzen. Auf dem Rückweg ruft Frau den Mann an, dem das alles total leid tut. Echt. Hier ist ein Knackpunkt, und der liegt in vielen Fällen nicht in der Bereitschaft des Vaters, sondern in dem oft noch fehlenden Selbstverständnis Vorgesetzter, dass in solchen Situationen auch Väter gefragt sind. Es ist längst nicht üblich, dass Väter beruflich entbehrlich sind. Bei Müttern weiß jeder, dass es eben nicht anders geht, und je nach dem wird es zähneknirschend geduldet oder sogar unterstützt. Die Vorgesetzten von Vätern sind aber oft entweder selbst Väter, bei denen das auch nie ging, oder eben noch keine Väter. Auch hier ist noch viel Luft nach oben. Es ist eine gesellschaftliche und kulturelle Frage, keine wirtschaftliche oder individuelle. Es muss kollektiv eingefordert werden, dass die bezahlte Arbeit in solchen Fällen auch von Vätern unterbrochen werden kann.

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Es muss also eine erste Generation geben, die ganz selbstverständlich diese Rolle annimmt. Jeder Arbeitgeber wird damit umgehen können, aber kaum einer wird es von sich aus anbieten, wenn es nicht eingefordert wird. Erst dann kann das Modell aufgehen. Wenn beide arbeiten (egal wie viele Wochenstunden) sind beide gefordert, wenn die Familie ruft. Beide prüfen ihre Verfügbarkeit bei Notfällen und bei wem es weniger weh tut, der geht. So einfach wäre das dann. Ist es aber meistens noch nicht.

Ich bin trotz dieser Herausforderungen, die wir noch zu bewältigen haben, überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir, das ist meine eigene Familie, das ist aber auch meine Stadt, mein Land und viele andere westeuropäische Länder auch (in Abstufungen). Das liegt unter Anderem daran, dass das so schick klingende und dezent geschminkte Konzept der mordernen „Working Mom“ meist gar kein selbstgewähltes mehr ist, sondern einer finanziellen Notwendigkeit entspringt. Das gilt inzwischen für alle gesellschaftlichen Schichten, außer der obersten. Daher taugen auch mediale Vorbilder in dieser Hinsicht nichts. Sicher sind Frau Klum und Frau von der Leyen und Frau Lopez sehr tüchtige Frauen, aber eben tüchtige Frauen mit Kindermädchen. Nun können wir dies neidvoll feststellen und weiter Pickel drücken, oder wir freuen uns an unseren neuen Möglichkeiten und gestalten das Konzept „Working Mom“ beim Erwachsenwerden mit. Und fangen bei uns an.

Ich kaufe dieses Jahr einen Adventskranz. Ein Anfang.

 

(Bildquellen: 1: Benjamin Thorn 2: Konstantin Gastmann, 3: Rainer Sturm, 4: Angelina S., 5: Oliver Weber, 6: Uwe Steinbrich, Alle: pixelio.de)

Zu Hause in O.


Heute schreibe ich über unser Haus in Ottensen. Ich bilde mir ein, dass es das so nur in Hamburg in Ottensen geben kann, was natürlich Quatsch ist, aber lasst mich. In diesem Haus wohnen Dorfbewohner, wie es sie schon seit hunderten von Jahren gibt, bloß übereinander. Das Besondere ist, dass alle irgendwie miteinander verbunden sind, keiner geht verloren, man nimmt sich wie man ist und wenn einer in Not ist oder einsam, kocht man Suppe. Im Sommer trifft man sich zufällig im Garten. Wer lieber allein sein will, geht in den hinteren Bereich, der fängt bei der Birke an. Wer Gesellschaft sucht, setzt sich im vorderen Bereich ins Gras, nah bei uns. Wir wohnen nämlich unten in der Wohnung mit Gartenzugang. Deswegen ist unsere Wohnung im Sommer auch die Klowohnung für alle. Ich mag es, wenn viele vorn bei uns sitzen, das spart den Gang in die Stadt (also Ottensen downtown).

Unsere Wohnung ist aber nicht nur unten, sondern auch hinten. Ich kokettiere gern damit, dass wir im Hinterhaus wohnen, im Gesindetrakt. Um zu uns zu kommen, muss man einen versteckten Nebeneingang nehmen, er führt direkt zu den Mülltonnen. An denen geht man vorbei durch einen geschmacklosen, dreckigen Gang und dann gelangt man in einen kleinen, verwahrlosten Innenhof. Dort muss man sich trauen, hinten wieder ins Haus hinein zu gehen und wenn man sich endgütlig verloren glaubt, nimmt man die erstbeste Tür und geht einfach die kleine Treppe im Hinterhaus hinauf bis ins Hochparterre und schon darf man bei uns klingeln. Falls ich mal ein Notfall bin, richte ich mich darauf ein, langsam und allein zu verenden, bevor ich gefunden werde.

Aber dann: Unsere Wohnung. Gemütlich, ein bisschen zu verwinkelt, ein bisschen zu dunkel, jeder Quadratzentimeter genutzt, wir wohnen zu viert in 3 Zimmern plus Kammer, und ausgestattet mit einer Loggia und eben dem Zugang zu einem 800 qm großen Garten. Wir als Hinterhausbewohner haben übrigens das einmalige Privileg, gleichzeitig in Ottensen und im feinen Othmarschen zu wohnen, denn genau unsere Loggia ist die Grenze. Je nach Stimmung darf ich mich also bescheiden oder posh fühlen! Wenn ich mich bescheiden fühle, erzähle ich gern die Geschichte von unseren direkten Nachbarn, beide um die 70, sie wohnen schon 40 Jahre hier, ebenfalls im Hinterhaus. Als sie einzogen, hing bei ihnen ein Schaltkasten mit kleinen Leuchten, unter denen stand „Tee“, „Bügeln“ und andere eindeutige Aufträge von den Herrschaften aus dem Vorderhaus. Schade, dass sie ihn damals entsorgt haben.

Da in unserem Haus nicht alle Wohnungen geteilt sind, gibt es auch reisengroße, so um die 240 qm. Unser Schlafzimmer ist deren Ankleidezimmer oder Zweitbüro und der vordere Teil der Wohnung hat Fischgrätenparkett und pompösen Stuck und einen Marmoreingang und was weiß ich für Pipapo. In unserem Haus versammeln sich also verschiedene Einkommensklassen. Diejenigen, die schon lange hier wohnen und in einer Hinterhauswohnung, sind die ärmsten. Die frisch zugezogenen mit ganzer Wohnung sind die reichsten.

Da gibt es zum Beispiel die Damen Meyer, Mutter und Tochter. Die Tochter ist Mitte 60, die Mutter 95, sie wohnen hier seit 60 Jahren. Während die betagte Dame geistig durchaus fit ist und im Leben steht („Oh, Ihre Kinderchen haben ja eine neue Karre!“), ist ihre Tochter irgendwann aus der Alltagstauglichkeit herausgefallen. „Ich mach das nicht mehr mit!“ schrie sie neulich und weinte. Ich hatte bei ihr geklingelt und sie freundlich gefragt, ob sie meinen Schlüssel annehmen könne, der Heizungsableser sollte kommen. Und zwar schon am nächsten Tag! Sie weinte, weil die Ankündigung nur im Vorderhaus hing, sie hatte das nicht mitbekommen und sich gar nicht darauf einstellen können. Nachdem sie den Nervenzusammenbruch dann aber doch überstanden und den Mann zu uns hinein gelassen hatte, entfaltete sie ihr großes Talent: Sorgfalt. Ich fand einen von ihr angefertigten Zettel, mit gespitztem Bleistift geschrieben, der eine Art Tabelle enthielt mit den Ableseergebnissen und was sonst noch zu beachten sei laut Heizungsableser. Sie war es auch, die unseren Kindern Geschenke zur Geburt machte, obwohl ich ihr nie erzählt hatte, wann die Kinder zu erwarten waren. Sie ist insgesamt der wahrscheinlich verlässlichste Mensch auf Erden. Ich mag sie, sie nimmt meine Pakete entgegen und wenn man mal eine Kiste mit hoch trägt, kriegt man am nächsten Tag Schokolade. Wenn sie nicht gerade zusammenbricht, ist sie immer freundlich.

In unserem Haus wohnen auch richtig wohlhabende Leute, unter Anderem Wehnerts, mit Vatti mit Wohlstandsbauch, der immerzu arbeitet und Mutti, immer gestresst von all den Terminen, die man als Hausfrau mit Kind eben so hat. Auch sie sind immer nett, überaus freundlich und schenken uns das hochwertige, abgelegte Spielzeug ihrer begabten, musikalischen, sportlichen, beliebten und hübschen Tochter, das wir mit Kusshand entgegen nehmen.

Und dann gibt es in unserem Haus noch echte Engel: Martha und Willi. Das sind die siebzigjährigen Nachbarn mit dem Schaltkasten. Martha ist mein Vorbild in Allem. Sie ist immer gelassen. Sie hat ein Herz so groß wie die Sonne. Sie ist fit und hübsch. Sie wohnt im Winter in Griechenland. Sie ist eigen und unabhängig. Und da sie keine eigenen Kinder bekommen konnte und wohl nicht wusste, wohin mit all dem Herz, hat sie ihr Leben lang als Therapeutin mit Kindern gearbeitet, oft mit behinderten. Nun ist sie in Rente und da wir und unsere Kinder nebendran wohnen, kriegen wir alles ab. Als unser Sohn zwei Wochen alt war, waren wir drüben zum Essen und sie hat sich mit ihm unterhalten, flüsternd, ganz privat. Nie vergesse ich, wie aufmerksam er ihr zugehört hat.

Am liebsten würde ich von allen erzählen, die hier wohnen, aber das führt zu weit. Dieses Haus ist magisch für mich, was ich deswegen gerade feststelle, weil uns ja ein Zimmer fehlt und wir irgendwann umziehen müssen. Ein Drama. Denn es hat doch etwas mit Ottensen zu tun, diesem inzwischen gänzlich durchgentrifzierten Stadtteil, der statt des alten Schwimmbads Esprit beherbergt, dessen Mieten sich nur noch große Ketten oder Erben leisten können (wir also nicht), der längst nicht mehr multikulti ist und in dem sich schon gar keine Künstler mehr niederlassen. Trotz all dem: Bis nach Ottensen weht auch jetzt noch der Wind von der Elbe nach oben. Der Wind aus der großen, weiten Welt, in der es alles gibt. Porschefahrer, Randständige, Frustierte, Glückliche, Kunst, Kommerz und Muscheln.

Wer also weiß, wie man aus einem Zimmer zwei machen kann, darf sich gern melden, dann bleiben wir hier. Bis man uns mit den Füßen zuerst herausträgt, den ganzen Weg durch den Hinterhof, den Schröddelgang und an den Mülltonnen vorbei bis zur Straße.

Wahnsinn


Es folgt ein Einblick in die Fragenwelt einer Vierjährigen, genauer: meiner vierjährigen Tochter. Die Fragen sind im Originalwortlaut wiedergegeben und stammen allesamt aus diesem Jahr. Manche sind weinend, manche einfach nur interessiert vorgetragen worden. Der Übersicht halber und um die unsagbare Vielfalt und Breite vierjähriger Krausköpfe zu verdeutlichen, habe ich die Fragen in Themenblöcken zusammen gefasst. Ungefähr weitere 500 Fragen habe ich weggelassen.

Beim Durchlesen fällt mir hauptsächlich Folgendes auf: 1.: Es ist ein Wunder, dass wir im Laufe unserer geistigen Entwicklung mehrheitlich nicht wahnsinnig werden. 2.: Ich kann höchsten 20% der Fragen sicher beantworten, und das mit 42.

Und nun viel Spaß:

Sterben:

Kann man im Himmel auch basteln und in den Kindergarten gehen?

Aber was denn nun, Mama, ist man im Himmel und kann fliegen, wenn man tot ist oder ist man in der Erde vergraben?

Wie kann man mich denn hören und sehen, wenn ich tot bin, dann bin ich doch ein Engel und der ist doch Luft!

Wohnen in unserem Haus andere Leute, wenn wir alle gestorben sind?

Warum muss man denn einen Fisch tot machen, bevor man ihn isst?

Astronomie und Erdkunde:

Ist die Sonne auch ein Stern?

Ist die Erde ein Planet?

Mama, gibts das eigentlich wirklich, das Ende der Welt?

Mama, kommen die Sterne auch mit uns in den Urlaub?

Ist es bei den Pinguinen und Eisbären im Sommer warm? Werden da auch die Blätter grün und im Herbst bunt und fallen von den Bäumen?

Mathematik:

Wie geht eigentlich Rechnen?

Psychologie und Soziologie:

Kann ein böser Mensch auch jemanden lieb haben?

Hast Du mich auch lieb, wenn wir uns streiten?

Haben echte Prinzessinnen auch mal Hosen an?

Biologie und Naturwissenschaft:

Warum kriegen Menschen und Hunde und Katzen aus dem Bauch ihre Babies und Pinguine und Vögel aus Eiern?

Sind Ameisen so stark wie Pippi Langstrumpf? Können die auch eine Tür tragen?

Wo schlafen Schmetterlinge? Machen die dann auch die Augen zu?

Wenn es böse Bakterien gibt, was machen denn die guten?

Bin ich auch mal eine Mama?

Können Pinguine schwimmen?

Essen Pinguine Salat?

Richtig einfach sind nur die Pinguinfragen, oder? Die Prinzessinnenfrage ging auch. Aber „Wie geht Rechnen?“ Pff, ein weites Feld. Das Ende der Welt? Ich hab gesagt, das gäbe es nicht, fand aber, ich hätte gelogen. Alle Fragen zum Thema Sterben habe ich beantwortet, als gäbe es im Himmel eine wunderbare Parallelwelt mit Kindergarten und Allem, bloß, dass man dort ständig singt und fröhlich ist und nie streitet. Nun ja, ich weiß es halt auch nicht besser. Ehrlich gesagt, sogar bei der Erde und der Sonne kam ich ins Schleudern, habs dann aber intuitiv doch richtig beantwortet. Bei „Wer wird Millionär“ hätte ich aber womöglich einen Joker verballert. Meine liebsten Fragen sind die mit dem Liebhaben, da bin ich total sicher. Natürlich kann ein böser Mensch jemanden lieb haben und natürlich hab ich Dich lieb, meine Süße, auch wenn wir streiten. Die Frage mit den Schmetterlingen wiederum musste ich im Internet recherchieren, mit ihr zusammen. Tatsächlich, die legen sich zum Schlafen unter ein Blatt und ruhen sich dort aus, hätte man so nicht gedacht, oder?

Alles in Allem bin ich einigermaßen erstaunt, wie wenig ich über das Leben weiß. Ich hätte gedacht, gemessen an einer Vierjährigen wäre es mehr. Aber ich muss sagen, es stört mich nicht sonderlich, das ist wahrscheinlich die dann doch einsetzende Altersweisheit.

Und noch was: Ich freue mich wahnsinnig auf all die Fragen, die noch kommen, denn schon drüber nachzudenken macht mich reich!