Meine högschtpersönliche German Angst

Absichtlich veröffentlichte Falschinformationen machen also Politik, hauptsächlich rechtskonservative, heißt es derzeit. Wenn das stimmt, ist es schlimm, Wahnsinn, aber ich brauche das gar nicht, um mich zu gruseln. Mir ist generell die Angst vor Fremden in unserem Land, vor dem Islam und vor dem Entstehen von Nachteilen durch überbordende Hilfsbereitschaft unheimlich. Die Idee, dass man anderen besser in ihrem eigenen Land helfen solle als ihnen Zuflucht in unserem zu gewähren befremdet mich, denn sie suggeriert eine Entweder-Oder-Entscheidung, dabei ist es in meinen Augen eine Sowohl-Als-Auch-Pflicht. Die Vorstellung, gut definierte Eingangskontrollen sowie hinreichend strenge Abschiebekriterien machten das Leben meiner Kinder sicherer oder gar besser, ist mir so fremd wie, naja, eben fremd. Mein Verständnis für die Haltung, dass der Islam, eine irgendwie bezifferte Anzahl Migranten oder abweichende kulturelle Gepflogenheiten nicht Teil von Deutschland sein sollen, geht gegen Null.

Mein Unbehagen fängt mit der Unklarheit darüber an, ab welchem Abweichungsgrad fremd fremd ist. Mal sehen: Schwedische Weihnachten und skandinavischer Landhausstil sind es schonmal nicht. Thailändisches Essen und Yoga auch nicht. Schwäbischer Dialekt ist für Norddeutsche und Berliner definitiv fremd, aber man hat ihn liebgewonnen. Börek und Dürüm sind auch fremd, schon wegen der vielen Ö‘s und Ü’s, aber darum geht es ja gar nicht, wenn die gut gemacht sind, warum nicht? Kopftuch dagegen ist natürlich total fremd, die Werte, die Werte, wo bleiben da die Rechte der Frau? Hömma, wir hatten Aufklärung! Aladdin ist zauberhaft, das gibt es als Musical, mit echtem fliegenden Teppich – nicht fremd. Aber Ehrenmorde, also bitte, damit haben wir nichts zu tun, total fremd. Bei uns gibt es Mord nur wegen schwerer Kindheit oder vielleicht noch zu vieler Ballerspiele, aber Familienehre, die kann ja wohl da bleiben, wo sie herkommt.

Menschliche Aufgabe

Überhaupt Familie, das Frauenbild des Islam, das wollen wir hier nicht, das ist uns fremd. Das hat mit Unmenschlichkeit nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Unsere Töchter sollen einfach keine Angst haben müssen, als Freiwild gesehen zu werden. Wer aus einem Land kommt, in dem der Islam Hauptreligion ist, hat das aber so gelernt, deshalb steigt die Wahrscheinlichkeit einer Vergewaltigung natürlich, wenn mehr Menschen davon in Deutschland sind, vor allem Männer. Davor muss man sich und seine Kinder doch schützen! Das ist unsere höchst menschliche Aufgabe, wer das nicht sieht ist entweder komplett naiv oder eben unmenschlich, und zwar seinen eigenen Kindern gegenüber!

Diese Verwechslung von Kausalzusammenhang und Korrelation ist so einfach wie wirkungsvoll, und das macht mir Angst. Enorme Angst sogar. Diverse einschlägige Medien bedienen sich dieser Argumentation, dafür brauchen die keine Fake-Nachrichten aus Russland oder sonstwoher. Man muss noch nicht mal AfD-Wähler sein, um das zu empfinden. Und selbst wenn man es ist kann man sehr wohl in der Lage sein, zu differenzieren zwischen vermeintlich verfehlter Politik und genereller Unmenschlichkeit, man kann sogar gleichzeitig die oben skizzierte Haltung haben und für Flüchtlinge spenden. Das macht mir auch Angst.

Voller Menschen, die verstehen

Am allermeisten Angst macht mir daran, dass das so ein Spiegel ist. In meinem direkten Umfeld nämlich passiert überhaupt gar nichts. Meine persönliche Filterblase ist voll von Menschen, die offen sind und für die fremde Einflüsse reizvoll sind. Die verstehen, dass Gewalt ihre Ursache nicht in Religion oder Ethnie hat, sondern in individuellen Erfahrungen. Die die Schwierigkeiten bei der Integration lösen wollen, anstatt sie zu vermeiden. Die fühlen, dass die Welt eins ist und wir alle hier bloß Gäste und die demütig sind, weil wir zufällig in einem der reichsten Länder der Welt leben. Die dankbar sind, dass sie die Möglichkeit hatten, sich einen wie auch immer gearteten Wohlstand zu erarbeiten. Und die wollen, dass es für alle reicht, für die, die hier schon immer waren und die, die dazukommen.

Ich habe keine Freunde, die Nazis sind, und falls AfD-Wähler oder Broder-Sympathisanten darunter sein sollten, halten die mich nicht davon ab, Gutes zu tun. In meinem Umfeld bin ich keiner nennenswerten Gefahr ausgesetzt, ich kann weltoffen, tolerant und multikulti sein, bis ich platze. Die gesellschaftliche Veränderung, die ich spüre und die mir Unbehagen bereitet, fasst mich in meiner Vorstellung davon an, wie es sein sollte, wie es richtig wäre. Ich habe Angst vor einem Umfeld, in dem das, was meine Welt im Innersten zusammenhält, in Gefahr gerät. Denn mir ist die Angst vor Überfremdung fremd. Ich fürchte mich vor ihr und will sie nicht in meiner Umgebung wissen. Am liebsten überhaupt nicht auf der Welt.

Es ist womöglich alles dieselbe Angst. German Angst. Gruselig.

 

 

Bild: Sergey Mironov / Shutterstock

Nur anderthalb Stunden

Mein Besuch im Hamburger Schulmuseum

Ich habe mich unter anderem deshalb selbstständig gemacht, um etwas flexibler zu werden und meine Kinder, wenn nötig, im Schulalltag begleiten zu können. Das ist gelungen und so bin ich vergangene Woche so eine Mitgeh-Mutti gewesen, als die dritte Klasse meiner Tochter ins Hamburger Schulmuseum ging. Ich hatte mir das ausgesucht, weil die Aktion kein Basteln enthielt und weil ich neugierig auf das Museum war. Ich wurde nicht enttäuscht. Diesen Besuch im Schulmuseum werde ich nie wieder vergessen. Niemals habe ich mehr verstanden über Geschichte, und zwar die von vor 130 Jahren, die von vor 70 Jahren und die der letzten Monate.

Die 3a war fröhlich und laut

Schon die Ankündigungs-E-Mail der Klassenlehrerin klang interessant. Darin wurde gebeten, dass alle Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und im Kleid erscheinen sollten und die Jungen mit Seitenscheitel und hellem Oberteil, falls vorhanden im Hemd. Außerdem wurde seit Wochen das Volkslied „Im Frühtau zu Berge“ geübt und meine Tochter erklärte mir schon vorab allerlei über Schulgepflogenheiten zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, man war also vorbereitet. Die Klasse fuhr mit Bus und Bahn durch Hamburg, und wer den öffentlichen Nahverkehr nutzt, kennt vielleicht dieses innere Zusammensacken, wenn eine Schulklasse denselben betritt, jedenfalls mir geht es so. Ich mag die allermeisten Kinder, aber nicht im Rudel morgens um acht. Die 3a war kein bisschen anders als alle anderen, also laut, aufgedreht und fröhlich auf diese anstrengende Art, bei der die Jungs sich so lange Bauch an Bauch anrempeln, bis einer umfällt und die Mädchen in Dreierstapeln übereinander sitzen und gackern. Ganz kurz ist das charmant, danach kommt es auf die individuelle Nervenstärke und das Wertesystem der Mitfahrenden an, ob sie zu den offenen Kopfschüttlern, verhohlenen Augenrollern oder gütigen Mildlächlern gehören.

„Jawohl, Herr Lehrer!“

Diese selbe Klasse stand keine zwei Stunden später stramm in der Schulbank und lachte nicht. Sie antwortete nur, wenn man sie fragte. Drehte ein Kind versehentlich den Kopf nach hinten, entschuldigte es sich anschließend für sein Fehlverhalten. Die Jungs waren zu Knaben geworden, die einen formvollendeten Diener beherrschten, die Mädchen machten einen Knicks, bei dem sich das hintere Bein im Plié abknickt, als Übung für ihren späteren Einsatz als Dienstpersonal. Ihre Antworten lauteten „Jawohl, Herr Lehrer“ oder „Entschuldigung, Herr Lehrer“ und sie sprachen in ganzen Sätzen, falls sie sprechen durften. Sie fragten nichts und schrieben in zackigem Gleichschwung einen Buchstaben auf ihre Schiefertafeln. Ansonsten lagen die Hände gefaltet vor ihnen. Alle Kinder taten das, keines fiel aus dem Rahmen. Nicht mal die eine Freundin meiner Tochter, die keine fünf Minuten stillsitzen kann oder die andere, die sonst unentwegt kichert und redet und auch nicht meine Tochter, bei der seit 3 Jahren im Zeugnis steht, dass sie die Melderegel besser einhalten muss. Die „Knaben“, die sich in der S-Bahn noch umschubsten, starrten geradeaus und hofften, dass man sie nicht weiter bemerkt. Der Junge, der sich zu Beginn geweigert hatte, seine Mütze abzunehmen, stand auf Befehl wie ein Zinnsoldat. Eine ganze Stunde lang funktionierten die Kinder wie Soldaten, alle.

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Für “Eigensinn“ sieben Stockschläge

Was war geschehen? So genau weiß ich es eigentlich auch nicht. Jedenfalls, es lief so ab: Nachdem wir im Schulmuseum angekommen waren empfing uns Herr Maier und führte uns in einen Raum voller alter Bücher. Herr Maier ist eine dieser Personen, die sehr nett und sehr autoritär gleichzeitig sind. Die perfekte Besetzung. Er erzählte allerhand über die Zeit von vor 130 Jahren und erklärte, wie die Regeln damals in der Schule waren. Gleichzeitig leitete er langsam das „Theaterstück“ ein, das später gespielt werden sollte. Damit war die oben umrissene erlebnispraktische Stunde gemeint. Er erklärte schon einmal, dass er dann der „Herr Lehrer“ sein würde. Schon jetzt machte er klar, dass nicht dazwischengeredet wird, keiner ausgelacht und dass man bitte zuhört, wenn er spricht. Im Laufe der nächsten anderthalb Stunden zog er diese Strenge mehr und mehr an.

Nach dem Bücherraum ging es in ein spannendes Zimmer, in dem allerlei Ausstellungsstücke zu sehen waren, alte, hochkopierte Bilder aus der damaligen Zeit, Rohrstöcke, Notizbücher mit Aufzeichnungen über das Fehlverhalten einzelner Kinder und die Art und Anzahl der Schläge dafür. Herr Maier erklärte, dass es vielerlei Fehlverhalten gab, neben Schwatzen und Unaufmerksamkeit zum Beispiel auch, dass man den Lehrer auf der Straße nicht gegrüßt hatte oder „eigensinnig“ war. „Eigensinnig“, sagte er, „also einen eigenen Sinn hat. Selbst denkt. Das war damals nicht gewollt, dafür gab es sieben Schläge auf den Rücken. Schließlich sollten die Jungen alle Soldaten werden und die Mädchen gingen als Dienstboten in den Haushalt.“ Die Kinder waren interessiert, mich schauderte heimlich ein bisschen. Hat sich doch ziemlich viel getan inzwischen, dachte ich erleichtert. Er erzählte noch einiges über Armut und auch die reichen Kinder, die „höheren Töchter und Söhne“, wie ein Schulalltag ablief und was die Kinder erwartete, wenn sie nicht in der Schule waren. Harte Arbeit nämlich, zumindest in der Volksschule und in die gingen ja die meisten. Und immer wieder kündigte er an, dass die Schule ja gleich noch im Theaterstück gespielt wird und erinnerte daran, wie die Kinder dann zu reagieren hätten, manches wurde kurz geübt, Haltung annehmen zum Beispiel.

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Ein dreifaches „Hoch“, bitte

Dann ging es los. Die Kinder zogen um in einen komplett nachempfundenen Klassenraum aus der Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts. Den Mädchen mit ihren Zöpfen wurden Kittelschürzen angezogen, den „Knaben“ Matrosenkragen. Getrennt nach Geschlecht zog die Klasse ein und wurde eine Stunde lang unentwegt angeherrscht. Kaiser Wilhelm wurde vorgestellt als der Herr, dem das Volk zu dienen habe, man solle gefälligst sein Bild anschauen während des Unterrichts. „Im Frühtau zu Berge“ wurde intoniert, die Kinder standen stramm und sangen wie ein gut trainierter Kinderchor, mit ernsten Gesichtern und tongenau. Der „Herr Lehrer“ war einigermaßen zufrieden. Zum Glück, denn bei jedem Fehlerchen während der Schulstunde gab es einen Schlag mit dem Stock gegen die Bank, in der die Kinder saßen, jede Ungenauigkeit wurde mit „Du faules Kind!“ oder „Muss ich alles zweimal sagen, Du eigensinniges Kind?!“ harsch kommentiert und kam danach nicht mehr vor. Nach einer halben Stunde funktionierte alles. Die Rücken der acht- und neunjährigen Kinder waren durchgedrückt, die Hände lagen still, auf Befehl taten alle Kinder alles, was der „Herr Lehrer“ verlangte. Man solle nun dem Kaiser huldigen, ein dreifaches „Hoch“, bitte. Und die Kinder taten das. „Er lebe…“, rief der Lehrer, „HOCH!“ brüllten die Kinder im Gleichklang, „Er lebe…“ „HOCH!“, jedes Mal schnellte der Zeigestock zum Bild an der Wand. Er lebe HOCH! Die Kinder waren froh, denn es klappte gut. Ich dachte, es könnte genauso gut „Sieg Heil!“ sein oder „Allahu akbar“ oder „Vater Schlumpf“, es war völlig egal.

„Das hat Spaß gemacht“

Man konnte in den Gesichtern der Kinder sehen, dass sie diese Schulstunde unterschiedlich empfanden. Manche als Spiel, andere als selbstverständlichen Teil des Museumsbesuchs, wieder andere waren angestrengt, ein paar wirkten leicht gestresst. Aber sobald der „Herr Lehrer“ seinen Gehrock auszog und wieder Herr Maier wurde (Er tat das ein einziges Mal während der Stunde und erzählte, warum Kaiser Wilhelm damals so wichtig war und was das mit Linkshändern und linker Politik zu tun hatte und wie gut das sei, dass das heute nicht mehr so ist) entspannten sich alle Kinder. Als die Stunde zu Ende war lachten sie wie gewohnt und lärmten über die Hamburger Reeperbahn und gackerten und schubsten sich durch den Bus nach Haus. „Das hat Spaß gemacht“ sagte eines der Mädchen, das eine Stunde lang starr und ernst nach vorn geschaut hatte und das sonst unter „Spaß“ ganz etwas anderes verstand, bauchfrei zu Bibi und Tina tanzen oder sowas.

Nun bin ich nicht naiv und habe „Die Welle“ gelesen und „Das Experiment“ geschaut und dieses und jenes zu psychologischer Manipulation gelesen und dennoch. Es dauert nur anderthalb Stunden, um 20 selbstbewusste, zu Individualisten erzogene, fröhliche und neugierige Kinder zu willfährigen Soldaten zu machen. Anderthalb Stunden.

Übrigens, das Schulmuseum ist toll und ich finde die Erfahrung, die die Kinder gemacht haben, in dieser Dosierung prima. Aber puh. Nur anderthalb Stunden.

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