Bellende Hunde


Ich finde es erstaunlich, dass sich nicht mehr Menschen gegenseitig umbringen. Verbringe ich einen Tag gehäuft an öffentlichen Orten mit vielen Menschen, begegnet mir so viel Aggression, dass ich mir abends selbst die Schultern massieren muss, um mich zu trösten. Meine nähere Umgebung ist quasi voll von Kriegsfronten, verhärteten Parteien, die um irgendwas kämpfen, ich nehme an, um Territorium. Oder Kulturgut. Oder Sexualpartner, was weiß ich.

Zum Beispiel vorgestern im Bus, ich fuhr mittags mit Kinderwagen mit dem 15er, der um diese Zeit immer knallvoll ist. Kinderwagenmuttis im Bus bilden eine eingeschworene Gemeinschaft, da alle ähnliche Erfahrungen gemacht haben, das schweißt zusammen. Das äußert sich unter Anderem darin, dass man sich zur Not an die Schlaufen unter der Decke hängt, damit auch der fünfte Kinderwagen noch hineinpasst, denn jede kennt die Schmach, im Regen mit hungrigem Kind und müden Füßen nicht mehr mitgenommen zu werden, weil der Bus voll ist. Und genau so war es vorgestern. Wir waren schon zu viert im Mittelraum des Busses, in den Gängen schlugen sich die Fahrgäste gegenseitig die Taschen in die Hüften und die, die saßen, hatten den Po eines Stehenden im Gesicht, und dann kam Mutti Nummer 5. Wir vier machten uns bereit, klemmten unsere Wagen an- und ineinander, hielten die Luft an und signalisierten ein Herzlich Willkommen-Komm rein-Passt schon. Und es passte auch, es passt immer irgendwie.

Etwas an diesem Vorgang rief die gegnerische Partei auf den Plan, es ist die Partei der  Kinderwagenhasser. Diese ist ebenfalls eine eingeschworene Gemeinschaft, da auch ihre Mitglieder ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Zum Beispiel gehen sie gemütlich Arm in Arm mit ihrer neuen Eroberung Bummeln und kriegen plötzlich einen Kinderwagen in die Hacken. Wenn sie sich umdrehen, sehen sie zwei schnatternde, Kinderwagen schiebende Muttis nebeneinander, die sich keinen Milimiter zur Seite bewegen und nur kurz unwillig gucken, weil sie nicht genug Platz haben, und das obwohl sie vor einigen Monaten unter Schmerzen die Rentenverischerungsbeiträge für alle auf die Welt gebracht haben. Das Pärchen muss sich also auf Zehenspitzen seitwärts ans Schaufenster klemmen und warten, bis der Treck vorbeigezogen ist.

„Dass die mit dem Kinderwagen nicht draußen geblieben ist, versteh‘ ich nicht“, pöbelte also ein Kinderwagenhasser in den Bus hinein, ohne die Betroffene anzusehen. Die Luft knisterte. „Wir schmeißen DICH gleich raus!“, nahm eine Mutti den Fehdehandschuh auf. Ich sah in ihr Gesicht und wusste, nur ihre Erziehung hielt sie von der Begehung eines Mordes ab. Knapp. Ich überlegte kurz, ob ich eine Maßnahme ergreifen musste, zum Beispiel mich flach mit meinem Kind auf den Boden legen oder die Busscheibe mit dem Nothammer einschlagen oder 112 rufen. Da merkte ich, dass die wütende Kinderwagenmutti, die übrigens gar nicht gemeint war, nicht wusste, wer gesprochen hatte. Genausowenig, wie der Kinderwagenhasser wusste, wer so rüde geantwortet hatte. Daher konnten sie also nicht aufeinander losgehen, die Gefahr eines Krieges mit mehreren Toten war fürs erste gebannt. Beide schimpften zwar noch eine Weile vor sich hin, aber wir kamen alle unversehrt an unseren Zielorten an.

Hierzu mache ich mir mehrere Gedanken, einer beinhaltet das Erstaunen, dass diese Drohgebärden in den meisten Fällen doch noch friedlich enden, obwohl sie das Potenzial zu Mord und Totschlag hätten. Müssen wir am Ende froh sein, dass wir so WENIGE Kriege auf der Welt haben, weil der überwiegende Teil der Menschheit so erzogen ist, dass man möglichst niemanden umbringt? Oder haben wir so VIELE Kriege auf der Welt, weil man all diese Menschen zu irgendwelchen Interessengemeinschaften zuordnen und dann als Kriegsunterstützer verwenden kann, weil diese Aggressionen dem Menschen per se innewohnen und beliebig genutzt werden können?

Dann wandern meine Gedanken ins Tierreich. Dort gibt es vielfältige Formen von Drohgebärden, das heißt Tiere signalisieren, dass das gegnerische Tier etwas tun oder unterlassen soll, da es ansonsten damit rechnen muss, zerfetzt zu werden. Dies dient, soweit ich informiert bin, im weitesten Sinne zur Erhaltung der Art. Muss also der Kinderwagenhasser in den Bus pöbeln, um zu signalisieren, dass er sich von zu vielen Kinderwagen in seiner unmittelbaren Nähe bedroht fühlt? Und muss die Kinderwagenmutti mit einer noch expliziteren Drohung reagieren („wir schmeißen DICH gleich raus!“), damit sie und ihr Kind langfristig überleben können? Dieser Gedanke wiederum macht mich insofern etwas stutzig, als dass ich selbst diesen Instinkt überhaupt nicht habe. Zwar fühle ich mich durchaus verschiedenen Gruppen zugehörig, aber nichts läge mir ferner, als meine Zugehörigkeit auf diese Weise zu signalisieren. Nicht eine Sekunde war ich versucht, einzugreifen, schließlich erinnere ich mich gut an meine Zeit ohne Kinderwagen am Schaufenster klemmend. Bin ich degeneriert? Domestiziert? Verklemmt? Ignorant? Suizidal? Wäre die Menschheit längst ausgestorben, bestünde sie aus Individuen wie mir? Oh mein Gott.

Ach was, das ist alles viel harmloser, bellende Hunde beißen ja nicht.

Gluckenmuttis


Natürlich habe ich Angst davor, dass meiner Tochter etwas zustößt. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, hier eine ordentliche Neurose zu entwickeln. Als sie ein paar Wochen alt war, wollte ich zum Beispiel alle Steckdosen in der Wohnung absichern. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt weder Krabbeln noch sonstwie eine Steckdose erreichen, aber mir war danach. Schon jetzt mache ich mir Gedanken darüber, wie meine heute 10 Monate alte Tochter jemals die viel befahrene, unübersichtliche Kreuzung nahe unserer Wohnung meistern soll. Eventuell wird sie erst kurz vor dem Abitur allein zur Schule gehen dürfen. Aber meine allergrößte Angst im Rahmen des Mutterdaseins hat mit den Gefahren, denen meine Tochter Tag für Tag ausgesetzt ist, nichts zu tun. Sondern mit mir. Genauer, mit den anderen Müttern. Ich schließe hier bewusst die Väter aus, denn trotz aller Emanzipation sind Mütter Glucken und Väter nicht, da kann man mir sagen, was man will.

Gestern rief mich meine Freundin an, die mit den zwei Kindern, 8 und 10. Sie erwartet Besuch von Jugendamt, das ihr eine dieser aufgebrachten Gluckenmütter auf den Hals schicken will. Da meine Freundin in vielerlei Hinsicht sozial engagiert ist und in diesem Zusammenhang eine freundschaftliche Verbindung zur örtlichen Jugendamtchefin pflegt, war sie wenig besorgt. Aber sie konnte vor Fassunglosigkeit kaum sprechen, als sie mir davon erzählte. Der Grund für die Drohung war eine Pokémon-Karte. Wem es nicht geläufig sein sollte, Pokémon ist ein Universum verschiedener Charkatere, die man unter Anderem als Karten sammeln kann. Kinder zwischen 6 und 12 sammeln und tauschen heutzutage Pokémon-Karten.

Der Sohn meiner Freundin war nun im Besitz einer Pokémon-Karte, deren Eigentumsverhältnisse ungeklärt waren. Und zwar gehörte sie eigentlich dem Sohn der Gluckenmutter. Jetzt wird der Fall verzwickt, also: Die achtjährige Tochter meiner Freundin hatte die Karte unrechtmäßig in ihren Besitz genommen und weiter getauscht, und zwar mit einem gemeinsamen Freund der beiden Geschwister. Dieser wiederum tauschte sie mit dem Sohn meiner Freundin. Von diesem forderte der Ursprungsbesitzer, der Sohn der Gluckenmutter, die Karte zurück. „Nö“, sprach der Sohn meiner Freundin, „die hab ich eingetauscht, die gehört mir“.  Juristisch finde ich das gar nicht so einfach. Ich sehe auf jeden Fall den Tatbestand der Unterschlagung als gegeben, und zwar durch die Schwester des Angeklagten. Sollte der gemeinsame Freund, der die Karte mit dem Sohn meiner Freundin getauscht hatte, davon Kenntnis gehabt haben, hätte dieser sich wiederum der Hehlerei schuldig gemacht. Zweifelsfrei ist der Sohn meiner Freundin freizusprechen. Das sah der Ursprungskartenbesitzer anders, er kam heulend nach Hause und beschwerte sich bei seiner Mutter, dass der böse Sohn meiner Freundin seine Pokémon-Karte nicht herausgeben will. Daraufhin fuhr die Gluckenmutter zur Schule, baute sich vor dem Sohn meiner Freundin auf und machte diesen zur Schnecke. Der ließ sich davon wenig beeinrucken, er kann durchaus beurteilen, wann er im Recht ist und in solchen Fällen lässt er sich von Erwachsenen nicht die Butter vom Brot nehmen. Er argumentierte sauber und klärte die Situation höflich, aber bestimmt. Das machte die Gluckenmutter, die deswegen Gluckenmutter ist, weil sie sonst wenig zu melden hat im Leben, rasend. Sie stieß wüste, Gewalt enthaltende Drohungen gegen den Sohn meiner Freundin aus und an dieser Stelle fand meine Freundin, sie müsse nun doch einschreiten. Sie rief die Gluckenmutter an und verbat sich, dass diese ihren Sohn bedroht. Im Laufe des Gesprächs kam dann der oben beschriebene Tatbestand zur Sprache und die Gluckenmutter wollte ernsthaft mit meiner Freundin über die Rechtmäßigkeit des Kartenbesitzes argumentieren. Und nun war meine Freundin fassungslos. Ihr sind die Probleme, die sich im Rahmen von Sammelkarten ergeben, völlig wurscht, sie mischt sich in sowas nicht ein. Abgesehen davon, dass sie ihre Kinder alt genug findet, um solche Konflikte allein auszutragen, interessiert sie sich für Pokémon-Karten nicht und möchte in Details nicht involviert werden. Ich finde das gesund.

So, nun wisst ihr, warum ich Angst vor anderen Müttern habe. Himmel nochmal, liebe Gluckenmuttis, stellt Euch doch einfach mal vor, ihr hättet 8 Kinder, einen Hof, 2 Hunde und vier Katzen sowie einen hungrigen Ehemann.

Vielleicht sollte ich schnell noch Jura studieren, um wenigstens gut vorbereitet zu sein.

PS: Gab es diese Mütter früher auch schon? Oder ist das ein Auswuchs unserer übersättigten Zivilisation? Oder darf man diese Frage gar nicht stellen, weil sie eine „Früher-war-alles-besser“-Attitüde enthält?

Ode an das Vergessen


Heute habe ich eine Stunde lang im Fitnesscenter Sport gemacht. Davon habe ich 55 Minuten darüber nachgedacht, ob ich gestern oder vorgestern zuletzt meine Haare gewaschen hatte. Ich wasche sie alle 2 Tage und wollte wissen, ob ich nachher beim Duschen das Shampoo mitnehmen muss. Ich bin wahnsinnig geworden. Um diese Frage zu beantworten, bin ich die letzten drei Tage minutiös durchgegangen, vom Aufwachen bis Insbettgehen. Dabei bin ich noch wahnsinniger geworden, da sich immer mehr Gedächtnislücken auftaten. Je angestrengter ich nachdachte, desto schlimmer wurde es, und das Schlimmste war, dass jede einzelne Minute der letzten drei Tage plötzlich eine unglaubliche Wichtigkeit hatte. Ich meine, es gab überhaupt keinen Unterschied mehr, ob ich über den Tod nachgedacht oder meine beste Freundin in ihrer Ehekrise begleitet oder den Stöpsel aus der Spüle gezogen hatte. Buddhistisch betrachtet ist das, glaube ich, ein erstrebenswerter Zustand. Alles im Hier und Jetzt und mit der Demut für den Augenblick erleben. Obwohl der buddhistischen Lehre durchaus nicht abgeneigt, halte ich dies für Schwachsinn. Das wurde mir in den letzten 5 Minuten meiner Sportstunde deutlich, als ich auf die Idee kam, dass es völlig wurscht ist, wann ich meine Haare zuletzt gewaschen hatte. Entscheidend war ja allein, ob sie fettig waren oder stanken, was beides nicht der Fall war.

Nein, Susanne, Du lebst nicht an Dir selbst vorbei, nur, weil Du vergessen hast, wann Deine letzte Haarwäsche war. Nein, Dein Leben ist deshalb noch kein Fluss automatisierter, gleichsam mechanischer Abläufe, die ohne Dein Wissen geschehen. Nein, Du musst nicht ständig und alles ganz bewusst und mit Freude machen und vor Allem musst Du Dich nicht Dein Leben lang daran erinnern!

Oh welch Gnade, die eine oder andere Belanglosigkeit dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Wie schön, dass ich nicht auch noch die Geburtstage der Männer meiner Freundinnen auswendig weiß, die mir Jahr für Jahr auch nur gratulieren, weil ihre Frauen sie daran erinnern. Was für ein Genuss, nicht alle Minister ihren Ämtern zuordnen zu können, niemand möchte so viele hässliche Brillen und Schlupflider in seinem kostbaren Hirn abspeichern. Juchhe, ich weiß nicht mehr, was ich vorgestern gefrühstückt habe! Es ist ohnehin verdaut und der Biosphäre zurückgegeben! Ja, ich habe den Vornamen meiner Nachbarin vergessen und könnte sie niemandem vorstellen, der bei einem zufälligen Flurtreffen neben mir stünde, Hurra, ich kann sie schließlich einfach fragen, wie sie nochmal heißt! Ja, ja, JA, ich wollte noch etwas Wichtiges aufschreiben und weiß nicht mehr, was, JA, ich habs vergessen und ich werde NICHT daran sterben, im Gegenteil, mein Leben wird spannender, denn ich werde irgendwann eine böse Überraschung erleben und JA, ich werde eine Lösung dafür finden, ganz spontan und sie wird brillant sein, YES, denn in meinem kleinen Hirn ist genug Platz für Spontanlösungen, weil es nicht mit lauter unwichtigem Kram vollgemüllt ist, JA!

Herrlich, die letzten 5 Minuten haben richtig Spaß gemacht.