Achtzig

Mein Vater ist kürzlich 80 geworden und ich war auf seiner Geburtstagsfeier. Ein Restaurant am Stadtrand, rund 25 Gäste, Freunde und Familie. Wow, 80. Das dachte ich schon vorher, als ich unter großen Anstrengungen und mittelschweren Familienkonflikten die Einladung in Word verfasste und auf marmoriertem Papier ausdruckte. Hinterher auch. Es hat mich seltsam angerührt und spontan schrieb ich im Anschluss folgenden Facebookeintrag:

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Die Feier hallt noch nach. Altersstarrsinn. Der kommt ja heute nicht mehr in Form eines Greises daher, der mit seinem Krückstock wütend auf den Boden donnert, um dann den Radetzkymarsch anzustimmen. Bei den heute Achtzigjährigen ist er subtiler. Haltungen und Meinungen sind zementiert, aber kritisch. „Sie ist einfach nicht einsichtig“ sagt die Mittsiebzigerin über ihre längst erwachsene Tochter, um seltsam reflektiert hinterherzuschieben „Das liegt natürlich auch an mir. Ich habe sicher viel falsch gemacht, aber ich konnte es damals nicht besser.“ Eine andere der Damen ist erleichtert, dass der in Liebesdingen unbegabte Sohn getrennt ist. „Endlich. Ich wusste das, sie hätten schon nicht mehr heiraten sollen. Aber ich habe mich zurückgehalten, damals, bei der Hochzeit.“ Als wäre das eine Leistung und als wäre sie aus Liebe erbracht. Kaum ein Kind, das nicht gravierende „Fehler“ macht, die man nun an den Enkeln sehen kann, man hatte es geahnt. Homo-Ehe, Eigenheim, Mütter im Beruf, kein gesellschaftliches Thema, zu dem nicht vollkommen unverrückbares Wissen den Raum vollstellt, in dem wir essen. Mehr als nur eine äußerst narzisstische Bemerkung fällt, getarnt als Sorge, Fürsorge gar. Und doch.

Alle Gründe sind noch da

Gleichzeitig brechen sich wohlwollende Gefühle ungehemmt bahn und behalten den ganzen Nachmittag über die Oberhand. Ungefähr die Hälfte der Gäste war zwischenzeitlich untereinander oder mit meinen Eltern zerstritten, zumindest ohne Kontakt. Aus allerlei Gründen, zu kapitalistisch die einen, zu unangepasst die anderen, irgendjemand war unwissentlich auf irgendeine Tretmine getreten, zack, Funkstille. Es gab halt so Gründe. Alle Gründe sind auch jetzt noch da. Aber man ist sich plötzlich wieder gewogen. Je mehr Konturen das Lebensende annimmt, desto wichtiger scheint Verbindung zu sein. Vergebung vielleicht, die Prioritäten verschieben sich jedenfalls. „Jeder nach seiner Fasson.“ „So sind sie, die Menschen.“ „Das muss ja jeder für sich entscheiden.“ Auch solche Sätze höre ich mehrfach und sie sind so gemeint. Ich höre liebevolle Zuwendungen, kleine Vorträge, umgeschriebene Seemannslieder, den ganzen Quatsch, der auf so Feiern aufgeführt wird und finde sie alle herzig und ehrlich. Es scheint ein kollektives Bewusstsein darüber zu geben, dass Familie und Freunde das sind, was am Ende bleibt, immer wieder wird das gesagt, gesungen oder spürbar gedacht. Man bewundert sich für Talente, betont, wie sehr man sich über den anderen freut, andauernd, das gab es auf früheren Festen nicht, jedenfalls nicht so explizit.

„Schlimm“

Vielleicht ist das immer so, vielleicht ist das ein natürlicher Prozess, vielleicht gibt es ihn seit es Menschen gibt oder jedenfalls, seit sie 80 werden. Vielleicht ist es aber in dieser Generation besonders ausgeprägt, beides, das Abgrenzen, Abwerten der anderen, der deutliche Narzissmus und das Umschlagen in ein wohlwollendes Miteinander. Die Vergangenheit war auch auf früheren Feierlichkeiten immer mal Thema, aber nie so direkt, wie auf diesem achtzigsten Geburtstag. „Das Krankenhaus, in dem ich geboren werden sollte, wurde ja genau in der Nacht ausgebombt. Man holte die verkohlten Leichen heraus, also ich wäre sicherlich nicht hier, hätte meine Mutter es ins Krankenaus geschafft.“ Die anwesenden Enkel gucken groß und interessiert. So ein Satz steht da einfach mit am Tisch, zwischen Kroketten und Rotkohl. „Ich hatte ja wegen des Krieges schulisch einiges verpasst und ging also zur Abendschule, um Abitur nachzumachen, das hat dann auch alles geklappt.“ Das sagt mein Vater und ich weiß, wie viele Kilometer er mit einem selbst gebauten Fahrrad damals durch Hamburg fuhr, abends und nachts, nach der Arbeit. Er empfand das als Glück. Wie Hitler in seinem Geburtsjahr die Olympischen Spiele eröffnete, „schlimm“, und Mussolini und Hitler paktierten, all das kommt zur Sprache, vorsichtig, aber konkret, benannt und mit leicht spürbarem Schaudern noch einmal erzählt. Ebenso wie die Adenauerzeit, man entschuldigt sich fast für die Glorifizierung der Amerikaner, aber „so war das eben damals“.

Funken

Es sind immer nur kleine Funken, diese tapferen Rückblicke. Eigentlich soll es ja um etwas ganz anderes gehen und geht es auch. Vorsichtiger, demütiger Optimismus, das ist das, was vorherrscht. Alle sind dankbar, dass sie hier sind, das merkt man. Alle Gäste haben Spaß miteinander, nur ein bisschen leiser der Refrain, ein bisschen sichtbarer die Krankheiten und Alterserscheinungen. Ich muss lachen, als ich leise gegen mein Glas pinge, um Gehör für mein Gedicht zu finden. „Damit komm‘ ich wohl auf einem Achtzigsten nicht mehr durch“, sage ich zu meiner Cousine und dengele dann sehr laut mit dem Esslöffel an die Wasserflasche, erst dann wird es still. Mein Gedicht ist auch gefühlvoller geraten, als die letzten, die ich vortrug. Ich möchte meinem Vater sehr deutlich sagen, wie dankbar ich ihm bin und dass ich mich freue, dass es ihn gibt. Auch ich bin viel wohlwollender. Diese nervigen Schrullen der komischen Freunde meiner Eltern, die haben mich früher wahnsinnig gemacht. Mit ebenso so starrer Abneigung musste ich ständig feststellen, wie bekloppt die meisten sind, wie starr, oh, huch!

Vielleicht war ja gar nichts anders an diesem Nachmittag, nur ich. Wow, 80.