Zu Hause in O.


Heute schreibe ich über unser Haus in Ottensen. Ich bilde mir ein, dass es das so nur in Hamburg in Ottensen geben kann, was natürlich Quatsch ist, aber lasst mich. In diesem Haus wohnen Dorfbewohner, wie es sie schon seit hunderten von Jahren gibt, bloß übereinander. Das Besondere ist, dass alle irgendwie miteinander verbunden sind, keiner geht verloren, man nimmt sich wie man ist und wenn einer in Not ist oder einsam, kocht man Suppe. Im Sommer trifft man sich zufällig im Garten. Wer lieber allein sein will, geht in den hinteren Bereich, der fängt bei der Birke an. Wer Gesellschaft sucht, setzt sich im vorderen Bereich ins Gras, nah bei uns. Wir wohnen nämlich unten in der Wohnung mit Gartenzugang. Deswegen ist unsere Wohnung im Sommer auch die Klowohnung für alle. Ich mag es, wenn viele vorn bei uns sitzen, das spart den Gang in die Stadt (also Ottensen downtown).

Unsere Wohnung ist aber nicht nur unten, sondern auch hinten. Ich kokettiere gern damit, dass wir im Hinterhaus wohnen, im Gesindetrakt. Um zu uns zu kommen, muss man einen versteckten Nebeneingang nehmen, er führt direkt zu den Mülltonnen. An denen geht man vorbei durch einen geschmacklosen, dreckigen Gang und dann gelangt man in einen kleinen, verwahrlosten Innenhof. Dort muss man sich trauen, hinten wieder ins Haus hinein zu gehen und wenn man sich endgütlig verloren glaubt, nimmt man die erstbeste Tür und geht einfach die kleine Treppe im Hinterhaus hinauf bis ins Hochparterre und schon darf man bei uns klingeln. Falls ich mal ein Notfall bin, richte ich mich darauf ein, langsam und allein zu verenden, bevor ich gefunden werde.

Aber dann: Unsere Wohnung. Gemütlich, ein bisschen zu verwinkelt, ein bisschen zu dunkel, jeder Quadratzentimeter genutzt, wir wohnen zu viert in 3 Zimmern plus Kammer, und ausgestattet mit einer Loggia und eben dem Zugang zu einem 800 qm großen Garten. Wir als Hinterhausbewohner haben übrigens das einmalige Privileg, gleichzeitig in Ottensen und im feinen Othmarschen zu wohnen, denn genau unsere Loggia ist die Grenze. Je nach Stimmung darf ich mich also bescheiden oder posh fühlen! Wenn ich mich bescheiden fühle, erzähle ich gern die Geschichte von unseren direkten Nachbarn, beide um die 70, sie wohnen schon 40 Jahre hier, ebenfalls im Hinterhaus. Als sie einzogen, hing bei ihnen ein Schaltkasten mit kleinen Leuchten, unter denen stand „Tee“, „Bügeln“ und andere eindeutige Aufträge von den Herrschaften aus dem Vorderhaus. Schade, dass sie ihn damals entsorgt haben.

Da in unserem Haus nicht alle Wohnungen geteilt sind, gibt es auch reisengroße, so um die 240 qm. Unser Schlafzimmer ist deren Ankleidezimmer oder Zweitbüro und der vordere Teil der Wohnung hat Fischgrätenparkett und pompösen Stuck und einen Marmoreingang und was weiß ich für Pipapo. In unserem Haus versammeln sich also verschiedene Einkommensklassen. Diejenigen, die schon lange hier wohnen und in einer Hinterhauswohnung, sind die ärmsten. Die frisch zugezogenen mit ganzer Wohnung sind die reichsten.

Da gibt es zum Beispiel die Damen Meyer, Mutter und Tochter. Die Tochter ist Mitte 60, die Mutter 95, sie wohnen hier seit 60 Jahren. Während die betagte Dame geistig durchaus fit ist und im Leben steht („Oh, Ihre Kinderchen haben ja eine neue Karre!“), ist ihre Tochter irgendwann aus der Alltagstauglichkeit herausgefallen. „Ich mach das nicht mehr mit!“ schrie sie neulich und weinte. Ich hatte bei ihr geklingelt und sie freundlich gefragt, ob sie meinen Schlüssel annehmen könne, der Heizungsableser sollte kommen. Und zwar schon am nächsten Tag! Sie weinte, weil die Ankündigung nur im Vorderhaus hing, sie hatte das nicht mitbekommen und sich gar nicht darauf einstellen können. Nachdem sie den Nervenzusammenbruch dann aber doch überstanden und den Mann zu uns hinein gelassen hatte, entfaltete sie ihr großes Talent: Sorgfalt. Ich fand einen von ihr angefertigten Zettel, mit gespitztem Bleistift geschrieben, der eine Art Tabelle enthielt mit den Ableseergebnissen und was sonst noch zu beachten sei laut Heizungsableser. Sie war es auch, die unseren Kindern Geschenke zur Geburt machte, obwohl ich ihr nie erzählt hatte, wann die Kinder zu erwarten waren. Sie ist insgesamt der wahrscheinlich verlässlichste Mensch auf Erden. Ich mag sie, sie nimmt meine Pakete entgegen und wenn man mal eine Kiste mit hoch trägt, kriegt man am nächsten Tag Schokolade. Wenn sie nicht gerade zusammenbricht, ist sie immer freundlich.

In unserem Haus wohnen auch richtig wohlhabende Leute, unter Anderem Wehnerts, mit Vatti mit Wohlstandsbauch, der immerzu arbeitet und Mutti, immer gestresst von all den Terminen, die man als Hausfrau mit Kind eben so hat. Auch sie sind immer nett, überaus freundlich und schenken uns das hochwertige, abgelegte Spielzeug ihrer begabten, musikalischen, sportlichen, beliebten und hübschen Tochter, das wir mit Kusshand entgegen nehmen.

Und dann gibt es in unserem Haus noch echte Engel: Martha und Willi. Das sind die siebzigjährigen Nachbarn mit dem Schaltkasten. Martha ist mein Vorbild in Allem. Sie ist immer gelassen. Sie hat ein Herz so groß wie die Sonne. Sie ist fit und hübsch. Sie wohnt im Winter in Griechenland. Sie ist eigen und unabhängig. Und da sie keine eigenen Kinder bekommen konnte und wohl nicht wusste, wohin mit all dem Herz, hat sie ihr Leben lang als Therapeutin mit Kindern gearbeitet, oft mit behinderten. Nun ist sie in Rente und da wir und unsere Kinder nebendran wohnen, kriegen wir alles ab. Als unser Sohn zwei Wochen alt war, waren wir drüben zum Essen und sie hat sich mit ihm unterhalten, flüsternd, ganz privat. Nie vergesse ich, wie aufmerksam er ihr zugehört hat.

Am liebsten würde ich von allen erzählen, die hier wohnen, aber das führt zu weit. Dieses Haus ist magisch für mich, was ich deswegen gerade feststelle, weil uns ja ein Zimmer fehlt und wir irgendwann umziehen müssen. Ein Drama. Denn es hat doch etwas mit Ottensen zu tun, diesem inzwischen gänzlich durchgentrifzierten Stadtteil, der statt des alten Schwimmbads Esprit beherbergt, dessen Mieten sich nur noch große Ketten oder Erben leisten können (wir also nicht), der längst nicht mehr multikulti ist und in dem sich schon gar keine Künstler mehr niederlassen. Trotz all dem: Bis nach Ottensen weht auch jetzt noch der Wind von der Elbe nach oben. Der Wind aus der großen, weiten Welt, in der es alles gibt. Porschefahrer, Randständige, Frustierte, Glückliche, Kunst, Kommerz und Muscheln.

Wer also weiß, wie man aus einem Zimmer zwei machen kann, darf sich gern melden, dann bleiben wir hier. Bis man uns mit den Füßen zuerst herausträgt, den ganzen Weg durch den Hinterhof, den Schröddelgang und an den Mülltonnen vorbei bis zur Straße.

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