Charakterbildung

„Charakter, was ist das eigentlich? Malte hatte sich diese Frage schon öfter gestellt, denn immer wieder hörte er seine Großmutter sagen: „Das Kind hat den schlechten Charakter seines Vaters!“ Malte wusste nicht recht, was er sich darunter vorstellen sollte, schlecht, o.k., das war klar, aber Charakter? An jenem Abend überlegte er, bei welchen Gelegenheiten seine Oma zuletzt etwas Derartiges geäußert hatte. Ihm fiel die Situation im Auto ein, neulich, als alle zusammen einen Ausflug ans Meer gemacht hatten. Da war Malte ärgerlich gewesen, denn seine große Schwester, die 14 war, durfte zum vierten mal nacheinander im Auto vorne sitzen, Malte hatte es genau mitgezählt! Dabei hatte seine Mutter ihm versprochen, wenn er zwölf sei, würden seine Schwester und er sich mit Vornesitzen abwechseln und nun war er schon sechs Monate lang zwölf und hatte erst 3 Mal vorne gesessen. „Das ist unfair!“, hatte er gerufen, „ich bin mit Vornesitzen dran!“. „Jetzt mach kein Theater und komm, wir sind sowieso spät dran“, hatte seine Mutter geantwortet und als er sich weigerte, hatte sein Vater ihn wortlos am Ohr gepackt und auf die Rückbank gestoßen, so dass sein Ohr noch den ganzen Nachmittag weh tat, wenn er dagegen kam. „Ihr seid fies!“ hatte Malte geschrien und sich vorgenommen, den ganzen Nachmittag kein Sterbenswörtchen mehr mit seiner Familie zu reden, zur Not auch noch den ganzen nächsten Tag. Und da war es gekommen. „Ich sags ja, der Junge hat einen schlechten Charakter. Das hat er von seinem Vater.“

Ein anderes mal war er mit Nasenbluten aus der Schule gekommen und die Großmutter war zufällig gerade zu Besuch. Er hatte sich mit seinem Sitznachbarn geprügelt, aber eigentlich nur ein bisschen. Es war um eine Strafarbeit gegangen, beide gehörten zu den besten in Mathe und standen in einem harten Konkurrenzkampf um den Spitzenplatz. Bei einer Klassenarbeit hatte sich heraus gestellt, dass einer vom anderen abgeschrieben haben musste, denn sie hatten den gleichen Fehler gemacht. Beide beteuerten ihre Unschuld, aber am Ende war es Malte, der schuldig gesprochen wurde und die Strafarbeit erledigen musste. Er war darüber so wütend gewesen, dass er nach Schulschluss gegen den Ranzen des Schulkameraden trat, was dieser zum Anlass nahm, ihn zu schubsen und Malte schubste zurück, woraufhin der andere stolperte und hinfiel und dann in überschäumender Wut mit der Faust in Maltes Gesicht schlug. Mangels Übung im Nahkampf traf er gar nicht richtig und es tat auch nicht besonders weh, aber irgendwie fing Maltes Nase an zu bluten. Damit war der Kampf beendet und Malte konnte als tapferer Held heimkehren. „Oh Gott, Junge!“, hatte seine Mutter gerufen, „was ist denn passiert?“. „Ich habe mich geprügelt“, hatte er geantwortet, ein bisschen ängstlich und sehr stolz. Während seine Mutter einen kalten Waschlappen in seinen Nacken hielt und mehr zu sich als zu ihm sagte „da wird Papa aber sauer sein“, hatte die Großmutter den Kopf geschüttelt, wobei ihr ausgeleiertes Doppelkinn hin und her wackelte und dann hatte sie es wieder gesagt: „Das Kind hat einfach einen schlechten Charakter.“

Malte mochte es nicht, wenn er etwas nicht verstand, schon gar nicht, wenn es ihn betraf. So oft hatte er den Satz gehört und nie konnte er sich richtig verteidigen, zum einen, weil die Großmutter ihn dabei nie direkt ansprach, sondern immer nur über ihn redete und zum anderen, weil er es nicht richtig einordnen konnte. Und so fasste er sich eines Abends ein Herz und fragte seinen Vater, was Charakter sei. „Das ist, wie ein Mensch ist“, hatte sein Vater geantwortet. Malte war sehr zufrieden. Wenn er einen schlechten Charakter hatte und Charakter das ist, wie ein Mensch ist, dann hieß das, er war schlecht. Nun hatte er es endlich richtig verstanden und so ging er an diesem Abend befriedigt ins Bett.“

 

 

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