Deutschland braucht Frischfleisch


In letzter Zeit nehme ich ab und zu an Umfragen teil, und zwar aus Langeweile. Obwohl die Aufzucht eines Kindes die so ziemlich aufregendste und sinnvollste Lebensaufgabe der Welt ist, entstehen dabei Lücken, Lebenssinnlücken. Sie entstehen, wenn das Kind schläft und man zu erschöpft ist, um etwas Produktives zu tun und nicht entspannt genug, um sich zu erholen. Ich schließe diese Lücken gewöhnlich mit irgendeiner sinnfreien Tätigkeit, zum Beispiel der Teilnahme an Umfragen. Die Potenz einer Lebenssinnlücke entsteht, wenn man die langweilige, sinnfreie Tätigkeit, der man gerade nachgeht, aus Langeweile googelt, es entsteht quasi eine Lebenssinnlücke zum Quadrat. Ich habe das gemacht, mit dem Wort Umfrage. Es war wider Erwarten großartig, hier ist das Ergebnis:

Per Umfrage wird jedes Jahr das Wort des Jahres gewählt, in 2008 ist es „Finanzkrise„. 1971 war es „aufmüpfig„. Da ging es also los mit der Befreiung von Zucht und Ordnung in Deutschland! Verfolgt man weitere Wörter des Jahres, ergibt sich ein knackiger Spiegel jüngerer deutscher Geschichte. 1977 kam die „Szene„, 1978 die „konspirative Wohnung“ (inzwischen fühlte sich das Establishment ernstlich bedroht). Dieser Geschichtsstrang streift noch die „Rasterfahndung“ (1980) und mündet schließlich 1983 in „Heißer Herbst„. Dann kamen die Grünen und die Worte des Jahres hießen „Umweltauto„, „Glykol“ und „Tschernobyl„. Na gut, Tschernobyl hätte es wohl auch ohne die Grünen geschafft. Jedenfalls, dann kam die Wendezeit und ganz ehrlich, seitdem geht es mit Deutschland bergab. Es begann optimistisch mit „Reisefreiheit“ 1989 und den immerhin noch gönnerhaften „neuen Bundesländern“ 1990. Aber dann nahm das Elend seinen Lauf. Der „Besserwessi“ regierte Deutschland (1991), „Politikverdrossenheit“ überkam das ganze Land (1992) und schließlich ging es los mit dem „Sozialabbau“ (1993), ein „Sparpaket“ musste geschnürt werden (1996), dadurch entstand ein „Reformstau“ (1997), den auch „Rot-Grün“ (1998) bekanntlich nicht auflösen konnte. Stattdessen gab es die „Schwarzgeldaffaire“ (2000), den „Teuro“ (2002), „Hartz IV“ (2004) und nun also die Finanzkrise.

Es gibt aber guten Grund zur Hoffnung, dass Deutschland doch nicht dem Untergang geweiht ist. Der Grund ist der Humor der Jugend. Neben dem Wort des Jahres wird nämlich seit einiger Zeit auch das Jugendwort des Jahres gewählt. Gewonnen hat 2008 das Wort „Gammelfleischparty„, das ist eine Party für über 30-jährige. Diese Altersgruppe ist es wohl auch, die Heuchlerbesen überreicht, heimlich in der Rentnerbravo blättert und sich nur noch im Eierkocher wirklich regenerieren kann. Ich bin guten Mutes, dass die Jugend es richten wird, Frischfleischparties feiert und fröhlich, vielleicht sogar ein bisschen aufmüpfig voran schreitet.

Nur Eines sorgt mich. Wenn ich politisch fragwürdige Begriffe, z. B. Heißer Herbst, im Internet veröffentliche, gerate ich dann ins Visier einer Rasterfahndung? Oder interssiert das keine Sau, was ja eigentlich auch nicht richtig wäre? Die stecken mir aber gewaltig in den Knochen, die Achziger, mannmannmann…

PS: Heuchlerbesen = Blumenstrauß, Rentnerbravo = Apotheken Umschau, Eierkocher = Whirlpool

PPS: Morgen googele ich das Wort Nasebohren.

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