Ihr Spießer!


Ich weiß gar nicht, ob dieses Wort unter den jungen Leuten von heute noch gebräuchlich ist. Zu meiner Jugendzeit gehörte es zum Alltagsrepertoire und bezeichnete alle Menschen, die in festgefahreren Bahnen lebten, die das taten was alle taten und Neuem gegenüber nicht aufgeschlossen waren, hauptsächlich die eigenen Eltern. Es war damals ziemlich leicht, kein Spießer zu sein. Im Wesentlichen reichten dafür ein langer Pony, eine Antiatomkrafthaltung und ein absichtliches Loch in der Hose. Wenn man dazu noch jemanden persönlich kannte, der Rastalocken hatte oder Greenpeaceaktivist war, war die Sache geritzt. Heute ist es ungleich schwieriger, kein Spießer zu sein. Ich persönlich jedenfalls habe darin total versagt.

Ich bin Mutter von 2 Kindern und Besitzerin eines Chariot Fahrradanhängers inklusive Säuglingsschale für den Kleinen. Ich verwende einen Ergo Carrier in den Farben black und camel, um meine Kinder vor dem Bauch zu transportieren. Meine Tochter wird bald eines dieser Laufräder erhalten, mit denen heutzutage Kleinstkinder durch den Straßenverkehr sausen. Angeblich lernen sie Radfahren dann mit 3 Jahren innerhalb eines Tages. Ich habe gegen jedes Wehwehchen passende Globuli im Schrank und vefüttere sie großzügig. Ich plane exotische Reisen mit den Kindern, damit ich mich weiterhin persönlich entfalten kann. Jeden Entwicklungsschritt meiner Kinder halte ich digital fest und teile ihn in sozialen online Netzwerken mit der halben Welt, auch mit denen, die an meinen Kindern kein Interesse haben. Ich besuche PEKiP-Kurse, arbeite in verantwortungsvoller Position in Teilzeit und stille meinen Sohn wo ich gerade gehe und stehe. Ich mag Bionade und Bio überhaupt und Café Latte. Ich habe ein Smartphone. Und verheiratet bin ich auch noch! Kurz, ich bin wahnsinnig angepasst. Mehr geht nicht, ich mache fast jeden Schnickschnack mit. Heutzutage ist Bio spießig und digital ist spießig, Cafés sind spießig und sanfte Kindererziehung sowieso. All dies gilt als verspannt, überkandidelt und irgendwie opportun. Dass ich immernoch gegen Atomkraft bin und auch gegen die Äußerungen von Herrn Sarrazin, hilft überhaupt nichts! Nicht mal, dass unsere Familie kein Auto hat, sondern Carsharing-Mitglied ist, rettet mich aus der Spießerecke, das ist nämlich, wie ich jüngst gelesen habe, ein Trend, so ein Mist.

All die Gegner meines Lebensmodells rufen mir und meiner Peer Group zu: „Entspannt Euch! Verweichlicht Eure Kinder nicht! Macht Eure Smart-, I- und sonstigen Phones aus! Trinkt Leitungswasser! Ihr braucht den ganzen Quatsch nicht, damit wird doch nur einer verantwortungslosen, gewinnstrebenden, seelenlosen Industrie in die Hände gespielt!“ Diese Menschen sind gegen aktuelle Kindertransportbehälter aller Art, gegen Biolebensmittel, gegen moderne Kommunikationsformen, gegen moderne Erziehungsideen, gegen Kitas, gegen Straßencafés und übrigens auch gegen Sonnenbrillen. So, Ihr Lieben, und was schlagt Ihr vor? Soll ich Hühner im Kinderzimmer züchten, damit die Kinder wieder einen natürlichen Kontakt zu Lebensmitteln erhalten? Oder mit ihnen gemeinsam ein selbstgezogenes Schwein schlachten? Soll ich auf dem Flohmarkt einen riesigen, nostalgischen Kinderwagen kaufen, mit dem ich nichtmal bei Penny ums Regal fahren kann? Soll ich sie im Sommer einfach mal ins Wasser schmeißen, damit sie schwimmen lernen? Soll ich bis zum Schuleintritt des letzen Kindes allein zu Hause sitzen, ein Kind nach dem anderen bekommen und im Dunkeln in der Ecke heimlich stillen, damit auch mein Mann nicht von einem Busenblitzer belästigt wird? Soll ich ihnen mit 3 Monaten Kuhmilch einflößen und alsbald dem Fläschchen einen Schluck Rotwein zur Beruhigung beimischen? Soll ich mir ein Telefon mit geringelter Schnur am Hörer kaufen, so eines, das man nie rechtzeitig erreicht hat? Soll ich ein Kännchen Kaffee mit Milch und Würfelzucker mit Horoskop drauf bestellen? Ach nee, ich geh ja als junge Mutter gar nicht aus, ich koch meinen Kaffee zu Hause mit Porzellanfilter.

Und wenn mir mal die Hand ausrutscht, soll ich dann sagen, „das hat uns früher auch nicht geschadet“?, Ihr – Ihr… Spießer, Ihr!

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