Apfelkuchen

Phrasendreschen – was für ein herrliches Wort. Man kann seine ganze Verachtung hineinlegen, dachte sie. Maria saß eingeklemmt zwischen lauter Leuten mittleren Alters, alle sahen gut aus, befanden sich in mehr oder weniger gehobenen Einkommensklassen, waren ein bisschen gebildet und schick. Das Restaurant war gut, aber bezahlbar, das Essen gekonnt zubereitet, der Wein mäßig. Der Jazz-Sampler nudelte schon zum zweiten mal durch, die Kerzen waren herunter gebrannt und gleich würde die Kellnerin, die wahrscheinlich irgendwas studierte, kommen, um sie auszutauschen. Sie wirkte emsig und fleißig und Maria wusste, dass sie einen guten Abschluss machen würde. Die Gespräche verliefen so, dass irgendein abgegriffenes Thema gewählt wurde, zum Beispiel die Gastfreundschaft der Süditaliener oder die Notwendigkeit, den Keller regelmäßig auszumisten, und auf diesem wurde dann herumgekloppt. Jeder hatte zwei bis drei Phrasen zur Verfügung, die nach einem allen bekannten Sprech- und Pausenrhythmus zum Einsatz kamen. Eine unhörbare Glocke im Hintergrund läutete ungefähr alle 15 Minuten einen Themenwechsel ein. Maria saß stumm dabei und wartete. Zwischendurch vertrieb sie sich die Zeit damit, zu raten, welcher Satz als nächster gesprochen wurde. Nach etwa einer Stunde verspürte sie eine unbändige Lust, für eine Überraschung zu sorgen. Für irgend etwas, das alle aufwachen ließe, vor Allem sie selbst. Zuerst stellte sie sich sie sich Dinge vor, die sie sagen könnte, zum Beispiel „Als ich 16 war, habe ich mal einen gut aussehenden Jungen aus Sizilien geliebt, ich habe ihn dann später umgebracht. Oh Gott, das habe ich noch nie jemandem erzählt.“ Sie verwarf das aber wieder, da es ihr ohnehin niemand glauben würde. Dann überlegte sie sich Dinge, die sie machen könnte. Sie könnte zum Beispiel ohnmächtig vom Stuhl kippen oder ihrem Sitznachbarn ins Gesicht spucken. Oder alle Kerzen auspusten, auch die an den Nebentischen. Oder allen ihre Blinddarmnarbe zeigen. Es half alles nichts, Maria hörte nicht auf, zu warten. Nach einer weiteren halben Stunde wurde sie wütend. Darüber, dass alles, was an diesem Abend gesagt oder getan wurde, in nichts münden würde, es gab keinen Sinn und kein Ziel, nichts, worauf alles hinauslief, keinen Höhepunkt, keine neue Erkenntnis, keine neue Bekanntschaft, kein unbekanntes Gefühl. Nichts würde nach diesem Abend besser oder auch nur anders sein, als vorher. Sie wartete umsonst. Am allermeisten war Maria aber darüber wütend, dass sie darüber so wütend war. Schließlich hatte niemand sie gezwungen, dabei zu sein, sie war weder gefesselt noch geknebelt, nichts außer sie selbst hielt sie davon ab, die Kellnerin zu fragen, was sie studierte oder den älteren Mann am Nachbartisch anzusprechen und zu fragen, was er da gerade liest oder ihren Sitznachbarn zu fragen, ob er sich auch langweilt. Wie erbärmlich. Sich freiwillig an einen Tisch mit seinen Freunden zu setzen, nichts zu sagen, alle langweilig und platt zu finden und auf irgend etwas zu warten, als hätte man eine Abenteuerreise gebucht, bei der es am Ende nur einen Hotelpool zu entdecken gibt.

Irgendwann war der Abend zu Ende, man zahlte, küsste sich auf beide Wangen, wünschte sich einen guten Heimweg, winkte sich noch mit Autoschlüsseln in der Hand ein Tschüss über die Straße und verschwand in Pitchpinewohnungen und Parkettbodenhäusern. Maria ging, als sie nach Hause kam, als erstes zum Kühlschrank und aß ein kaltes Würstchen mit Ketchup. Dann ging sie ins Bett und schlief ohne zu lesen ein. Am nächsten Tag, gleich morgens, rief sie ihre Mutter an. Sie wollte ihr sagen, dass sie an allem Schuld ist. Dass sie, Maria, gefangen war in einem Korsett aus Erwartungen und nicht wusste, wie man glücklich ist. Dass sie den Leberfleck am Kinn ihrer Mutter immer schon eklig fand und sich ihre ganze Kindheit lang vorgestellt hat, dass dieser Leberfleck aus dem Gesicht auf sie überspringt, wenn sie etwas falsch macht. Dass ihre größte Lebensangst darin bestand, so zu werden wie sie, das wäre das Schlimmste. „Hallo Mama!“ begann sie. „Mein Kind, wie schön von Dir zu hören, ich habe gerade an Dich gedacht. Ich wollte heute Nachmittag vorbeikommen, wir haben so viel Apfelkuchen von gestern übrig, wir hatten Petersens zum Kaffee hier aber Du kennst ja Frau Petersen, ewig auf Diät, gerade mal ein Stück hat sie gegessen und Herr Petersen immerhin zwei aber ohne Sahne wegen Cholesterin. Ich weiß nicht, früher sind wir mit Petersens besser klar gekommen, seit sie ihr Haus verkaufen mussten ist da irgendwie ein Bruch drin. Ich glaub die sind neidisch, dass wir es so schön haben. Na, jedenfalls, ich komm dann nachher mit dem Apfelkuchen, ist dir halb vier recht?“ „Klar“, sagte Maria, „halb vier ist prima. Ich freu mich. Bis nachher.“ Dann legte sie auf, ging joggen, kaufte auf dem Rückweg fettarme Milch und frisch gerösteten Kaffee, duschte, zog sich einen knötchenfreien Pulli und eine heile Jeans an, saugte schnell noch das Wohnzimmer und putzte das Klo, und wartete.

 

 

Schreibe einen Kommentar